Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Columbus war ein Englaender

Columbus war ein Englaender

Titel: Columbus war ein Englaender Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fry
Vom Netzwerk:
aber zu glauben.
    »Wenn’s weiter nichts ist«, signalisierte ich mit hochgezogener Augenbraue und trottete von dannen.
    Beim Mittagessen kam Mr. Kett an meinen Tisch und setzte sich mir gegenüber. Ich fühlte mich von tausend glühenden Augen durchbohrt.
    »Also denn, junger Mann. Ich soll heute morgen nicht in meiner Klasse gewesen sein? Dabei habe ich den Raum nicht eine Minute verlassen.«
    »Äh, ich habe geklopft, Sir, aber Sie haben nichts gesagt.«
    »Du hast geklopft?«
    »Ja, Sir. Und als ich von drinnen nichts hörte, bin ich wieder gegangen.«
    »Miss Meddlar sagt, du hättest ihr versichert, das Blatt mit den Prüfungsergebnissen auf meinen Schreibtisch gelegt zu haben.«
    »Ah, nein, Sir. Als Sie auf mein Klopfen nicht antworteten, bin ich wieder gegangen.«
    »Ich verstehe.«
    Es entstand eine kurze Pause, in der ich von einem heißen Prickeln durchflutet auf meinen Teller starrte.
    »Nun gut. Wenn du mir dann jetzt das Blatt geben könntest ...«
    »Sir?«
    »Ich nehme es jetzt mit.«
    »Oh. Ich habe es verloren, Sir.«
    »Verloren?«
    »Ja, Sir. In der Pause.«
    Ratlosigkeit breitete sich auf Mr. Ketts Gesicht aus.
    Präg dir diese ratlose Miene gut ein, Stephen Fry. Sie wird dir noch oft genug begegnen.
    Narziß kann sich nur dann begehrenswert finden, wenn er sich über eine glatte, stille und unbewegte Wasserfläche beugt. Wer in aufgewühltes Wasser blickt, sieht sein Antlitz verfinstert und verzerrt. Und genau das war Mr. Ketts Gesicht, ein von dunkler Unruhe aufgewühltes Wasser. Belogen zu werden, war eine Sache, nur geschah es in diesem Fall auf so kaltschnäuzige Art und ohne erkennbaren Grund.
    Ich kann seine Verwirrtheit nur allzugut verstehen. Drohend steigt sie in diesem Moment wieder vor mir auf, und der Aufruhr in seinen Augen spiegelt ein in der Tat häßliches Antlitz.
    Hier hatte er einen hellen Jungen vor sich, einen außerordentlich hellen sogar. Er wohnte in einem prachtvollen Haus am Ende der Straße: Seine Eltern, auch wenn sie neu inNorfolk waren, schienen nette Leute zu sein – man war sogar geneigt, sie als ausgesprochen nett zu bezeichnen. Der Junge besuchte diese kleine Schule nur bis zum Sommer, bevor man ihn an eine auswärtige Prep School schickte. Kett war ein Mann seines Dorfes und folglich ein Mann von Welt. Ihm waren oft genug begabte Kinder untergekommen und oft genug auch Kinder aus Familien der oberen Mittelschicht. Dieser Junge verfügte offenbar über hinreichend Anstand, Takt und Benehmen, und doch besaß er die Unverfrorenheit, einem, ohne zu erröten oder zu stottern, eiskalt ins Gesicht zu lügen.
    Okay, vielleicht trage ich ein bißchen zu dick auf.
    Die Chancen stehen schlecht, daß John Kett sich überhaupt an jenen Tag erinnert. Ich weiß sogar, daß er es nicht tut.
    Also gut, ich übertreibe. Ich lege mir den Zwischenfall so zurecht, wie ich ihn gerne haben möchte.
    Wie alle Lehrer übersah und verzieh John Kett den Kindern unter seiner Obhut die unzähligen offenbarenden Momente, in denen sie sich wie kleine Bestien gebärdeten. Jeden Morgen grüßt er Männer und Frauen, inzwischen selbst Eltern, von denen er noch gut weiß, wie sie vor Jahren wie die Kesselflicker aufeinander losgegangen sind, sich in die Hose gemacht haben, andere schikaniert haben oder selbst schikaniert wurden, beim Anblick einer Spinne oder bei fernem Donnergrollen vor Schreck laut aufgeschrien oder Marienkäfer gequält haben. Gewiß, eine dreiste Lüge wiegt schwerer, als wenn man sich wie ein wildes Tier aufführt oder sich vor Angst in die Hose scheißt, aber diese Lüge war und ist allein mein Problem, nicht das von John Kett.
    Die Geschichte mit den Testergebnissen in Mary Henchs Gummistiefeln ist nur deshalb ein so einschneidendes Erlebnis für mich, weil sie sich unauslöschlich in meinem Kopf eingebrannt hat. Anders gesagt, sie ist bedeutsam, weil ich ihr diese Bedeutsamkeit zuschreibe, und allein das zählt. Ich vermute, sie markiert für mich den Anfang dessen, was in der Folge zu einem immer wiederkehrenden Muster einsamerLügen und öffentlicher Bloßstellungen wurde. Die Tugend dieser besonderen Lüge war, daß sie um ihrer selbst willen geschah und keinem Zweck diente, während ihre Verwerflichkeit in ihrer vorsätzlichen und gekonnten Ausführung bestand. Als Kett sich zum Verhör an meinen Tisch setzte, war ich nervös – trockener Mund, Herzrasen, feuchte Hände –, aber in dem Augenblick, als ich zu sprechen begann, gewann ich nicht nur meine

Weitere Kostenlose Bücher