Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
Brötchen sind warm, als kämen sie gerade aus dem Ofen. Die Butter schmilzt darauf und durchzieht sie mit ihrem sanften Aroma. Sogar Darius sitzt bequemer auf seinen Stuhl, während er isst.
»Das hat mit Ewigkeit nichts zu tun«, antwortet er. »Ich bin schon jetzt in einem Alter, das wir als Menschen nie erreichen. Ich habe Angst, dass …« Er schaut sich hektisch um, die gerade beim Essen gefundene Entspannung verfliegt für einen Moment. »… wenn es mich freigibt …« Doch dann lehnt er sich zurück, als hätte er sich eines Besseren besonnen. »Vielleicht muss ich einfach mehr erzählen. Da du dich ohnehin wieder erinnerst – was das Haus bestimmt nicht vorgesehen hatte – kann ich auch von ihm erzählen. So hältst du mich wenigstens nicht für verrückt.«
Ein Satz, gegen den ich mich noch nie wehren konnte, der jedes Mal mein Erbarmen beschwört. Erbarmen, das Darius gar nicht nötig hätte. Natürlich halte ich ihn nicht für verrückt. Vielleicht, wenn mir die Heuschrecken nicht in den Sinn gekommen wären, wenn nicht nach über fünfzig Jahren der Wolpertinger in meine Erinnerung gestiegen wäre, wenn ich nicht in diesem Haus sitzen würde, von dem ich keine Ahnung mehr hatte, bis Darius wieder in meinem Leben Platz genommen hat, würde ich ihn für verrückt halten. Aber dann säße er nicht hier und könnte sich darüber Gedanken machen.
»Hast du davor Angst?«
»Nein. Ich weiß, du glaubst mir.«
Jetzt erst zieht Darius seine Jacke aus, ein Ärmel fällt dabei auf das gebratene Würstchen auf seinem Teller, saugt einen Fettfleck an. Nachdem er die Jacke über den Stuhl gehängt hat, schaut er sich um, geht zur Tür, öffnet sie kurz, schließt sie wieder, atmet erleichtert aus. In diesem Haus, welches doch sein Zuhause ist, das Leben, das er geführt hat, scheint er nicht zu wissen, was passiert, nicht hören zu können, was es erzählt, nicht spüren zu können, was in ihm vorgeht, wie er es aus meinen Gedanken kann. Er versucht es sich bequem zu machen, lehnt einen Arm über die Rückenlehne des Stuhls, als er sich wieder setzt, schlägt die Beine übereinander, holt ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. Die ganze Fahrt über hatten wir nicht geraucht. Der Geruch des Tabaks verbreitet vertraute Luft zwischen uns. Mit jedem Zug entspannen sich Darius‘ Gesichtszüge.
Wir schweigen, bis er aufgeraucht hat, nicht mehr dies angestrengte Schweigen, das auf Ereignisse lauscht, sondern eines, das zur Ruhe kommt und kommen lässt. Ich nutze es, um mir noch etwas zu essen zu holen, ein Brötchen, etwas Erdbeerkonfitüre. Was soll uns hier passieren?
»Er hat mir den Preis genannt, ja. Doch mir fehlte, wie du es so schön ausgedrückt hast, der Begriff von Ewigkeit. Ich saß im Gefängnis für etwas, das in diesem Gefängnis an der Tagesordnung war. Ich wusste nicht warum, nicht einmal, ob ich schwul bin, den Frauen wirklich nichts abgewinnen kann. Der Sex mit jenem jungen Mann war mein erster gewesen. Neugier, wie eine fremde Hand sich dort anfühlt, wohin ich sonst nur meine legte, hatte dazu geführt. Die Situation war durch die Feier und den geflossenen Wein begünstigt. Es gab aber durchaus tiefe Verbundenheit, ein warmes Gefühl für sein Gesicht, ein zerberstendes in der Berührung. Wir kannten uns lange, waren miteinander aufgewachsen, gemeinsam nackt geschwommen, kannten keine Scham voreinander, zogen sie nicht einmal in Erwägung. Wir waren etwas spät und unerfahren. Ich hatte keine Zeit, zu überlegen, wer ich bin, was ich bin und wie ich fühle.« Darius stutzt kurz, sieht mich an, als suche er etwas in meinem Gesicht, schüttelt nicht nur den Kopf, sondern den ganzen Körper. »Komisch, dass ich mich auf einmal an ihn erinnern kann.« Er nimmt sich eine abgekühlte Wurst von seinem Teller, beißt einmal hinein, schluckt, lehnt den Arm wieder über die Rückenlehne und erzählt weiter. »Ich landete im Gefängnis, bevor ich mir darüber Gedanken machen konnte. Und ich wollte hinaus. Der alte Mann, wunderlich, kauzig, bot mir die Freiheit an. Ich war verzweifelt genug, nach jedem Strohhalm zu greifen. Der Wert von Geschichte war mir höchstens theoretisch bewusst, nur Gegenwart zu haben, zu abstrakt. Also sagte ich ja.«
»Du musst dich nicht rechtfertigen.«
»Ich erkläre nur.«
Zum ersten Mal, seit wir im Haus sind, lächelt Darius, zum ersten Mal kann ich mir wieder
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