Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
Vom Netzwerk:
selbst, wenn man es nicht sieht. Es wird vom Ost- oder Westwind über das Land getragen und legt seinen salziges Aroma auf die Felder und Wälder.
          »Du musst dich nicht entschuldigen, weil du nicht widerstehen konntest.«
          Jetzt nimmt er die Hand von meinem Bein, zieht das Taschentuch aus der Hosentasche und schnupft aus. »Das möchte ich auch nicht. Ich bin nur froh, dass du es konntest, so schmerzhaft es auch war.«
          Endlich keine Häuser mehr, nur rechts und links ein weites Feld, in der Sonne glänzender Frost und im seitlichen Horizont ein Wald. Erst, als wir links in den Büttenbarg einbiegen, ein letzter Hof vor der Endlosigkeit. Hier ist es so einsam und verlassen, wie ich es in Erinnerung habe. Einsamer noch, der nächste Ort scheint unerreichbar, keine Einkaufsmöglichkeit, kein Laden, in dem mich ein mürrischer Besitzer auf Befehl eines Wolpertingers beschenken könnte.
          Schweigend folgen wir den Biegungen des Weges zwischen den verwaisten Rinderweiden hindurch, bis er hinter einem Buchenknick abrupt zu schmal für das Auto wird und wir zu Fuß weiter müssen. Es ist nicht nur kalt, es ist schweinekalt trotz der Sonne. Kälte, die durch die Kleidung kriecht, vor der auch Windjacke, Wollpullover und dicker Mantel nicht schützen können. Wir ziehen instinktiv die Schultern hoch, obwohl sich der Frost bei dieser verkrampften Haltung nur schneller durch den Körper frisst. Vom Aloisiushaus ist nichts zu sehen. Vor uns liegt eine Schonung in fast geometrischer Form. Zielstrebig hält Darius darauf zu, rennt fast, als fürchtete er, zu spät zu kommen, als hätte er eine Verabredung, zu der er pünktlich sein müsste. Ich versuche ihm zu folgen, bleibe hinter ihm zurück und verliere ihn im dichten Wald aus den Augen. Holz knackt, Schritte rascheln über die Schneedecke. Darius muss den Weg verlassen haben und sich durchs Unterholz kämpfen. Zweige wippen leicht nach.
          »Warte bitte!«, rufe ich ihm nach. »Ich kenne den Weg doch nicht.« In gebückter Haltung komme ich vorwärts, sehe Schuhe vor mir, Beine in Jeans, richte mich auf.
          »Entschuldigung.«
          »Macht nichts. Ich kann nur nicht mehr so schnell.« Kein Vogel ist zu hören, keine Maus, die raschelnd durch das gefrorene Laub huscht, nicht mal der leichte Wind. Darius hält mir die Äste aus dem Weg, schreitet voran, schaut sich immer wieder um, ob ich auch folge. Es dauert nicht lange, bis wir zu einer Lichtung kommen, am westlichen Rand ein abgeerntetes Weizenfeld. Der Boden unter dem Raureif – weich und voller Moos. Im Norden eine Zunge aus Bäumen, dahinter versteckt: das Aloisiushaus. So, wie ich es in Erinnerung habe. Ein richtiges Einfamilienhaus mit zwei Etagen und einem hölzernen Balkon. Das Holz dunkel gebeizt, verwitterter als vor fünfzig Jahren. Auf der Terrasse und vor der Eingangstür liegt gefrorenes Laub.
          Das Haus fügt sich sonderbar in die Landschaft ein, dabei müsste es im flachen Nordland doch wie ein bayerischer Störfaktor wirken. Die Klappen der Fenster sind geöffnet, hinter den Scheiben brennt Licht. Rauch kommt aus dem Schornstein. Den hätten wir doch vom Auto aus über dem Wald aufsteigen sehen müssen.
          »Wir werden erwartet«, sagt Darius, verlangsamt seinen Schritt, lässt mich überholen, als wolle er sich hinter mir verstecken.
          »Hast du Angst?«
          »Ja.«
          Das warme Licht ist verlockend, die trockene sonnige Kälte treibend, doch auch ich gehe nur langsam über die Lichtung auf das Haus zu. Ganz anders als bei unserem ersten gemeinsamen Besuch, als wir froh, endlich angekommen zu sein, den Schlüssel aus der Holzklappe genommen und es uns allein im Haus gemütlich gemacht haben.
          Wer ist im Haus? Der Wolpertinger? Ihn habe ich komisch aber freundlich erlebt. Warum habe ich Angst?
          Darius bleibt dicht hinter mir. Der Türgriff lässt sich bewegen, ohne zu knarren, die Tür leicht aufziehen. Einen Moment bleiben wir an der Schwelle stehen, schauen in die Gaststube. Es hat sich kaum etwas geändert. Der Fußboden scheint abgewetzter und dunkler, das Eichenholz an den Wänden hat Patina angesetzt, die grüne Farbe an den Türen blättert ab, normale Verschleißerscheinungen, normaler Fraß der Zeit, aber alles ist so vertraut wie die Kulisse einer Fernsehserie, die man regelmäßig ansieht.
          Zwei der Tische sind an die Wand gestellt und mit einem sauberen weißen

Weitere Kostenlose Bücher