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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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meine Verabredung mit Jacques völlig vergessen. Ich musste mich unbedingt bei dem Jungen entschuldigen. Ich zögerte einen Wimpernschlag lang, dann stapfte ich durch den Pulverschnee. Eines nach dem anderen.
    Agnès‘ Haustür war nur angelehnt und ich schob sie auf. Ein Stuhl lag umgefallen vor dem kalten Kamin. Ich zog meine Strickjacke enger um meinen Körper. „Agnès?“ Meine Stimme zitterte. Ich ging in die Küche, auch hier kein wärmendes Feuer, und öffnete die Tür, hinter der ich Agnès‘ Schlafzimmer vermutete. Es war düster, die schweren Gardinen ließen kaum Licht herein. Ich zog sie zur Seite und ein Lichtstreifen fiel über die Möbel. Ein Bett, eine Kommode, ein Stuhl. Keine Spur von Agnès. Ich lehnte mich an die Wand und atmete tief durch. Da war überhaupt keine Spur von Leben im Zimmer zu erkennen. Keine Kleider, keine persönlichen Sachen, kein Taschentuch, kein Bild.
    Zurück im Wohnzimmer ließ ich meine Blicke schweifen und hoffte irgendein Zeichen zu finden, irgendeinen Anhaltspunkt dafür, dass sie hier gewesen war. Auf dem Kaminsims stand ein einziges Bild. Nacht. Ein Kastanienbaum. Tiefdunkel stand er unter einem violetten Himmel, breitete seine ausladenden Äste aus. Ich strich über den Holzrahmen und rieb meine Fingerspitzen aneinander. Staub. Eine dicke Staubschicht bedeckte den Rahmen und auch den Kamin. Die Feuerstelle war gesäubert worden, nur ein kleiner Rest Asche war zurückgeblieben. Ich ließ sie durch meine Finger rieseln. Das Pochen in meinem Kopf kehrte zurück. Ich rieb über meine Stirn und starrte in den Ascherest, als könnte ich daraus lesen wie aus Kaffeesatz. Das Haus sah verlassen aus, als hätte schon seit Jahren niemand mehr darin gewohnt. Was war hier passiert? Wir waren doch nur ein paar Stunden fort gewesen. Einen Tag vielleicht. Und wo war Agnès? Mein Herz schlug mir bis zum Hals und übertönte sogar das Pochen hinter meiner Stirn, das mittlerweile zu einem Trommelwirbel angeschwollen war. Und zwischen all den Trommeln klopfte jemand einen anderen Takt. Schritte. 
    „Gott sei Dank! Ich dachte schon du wärst verschwunden!“ Ich sprang auf und prallte gegen einen Körper.
    „Aber nein, wo sollte ich denn hin? Aber wenn ich gewusst hätte, dass du nach mir suchst, dann hätte ich dir schon früher meine Aufwartung gemacht.“ Das Lächeln in seinem Gesicht wurde breiter, als er eine Verbeugung andeutete.
    „Rokan.“ Ich atmete aus.
    „Enttäuscht? Das tut mir leid. Du hast wohl jemand anderen erwartet – jemand größeren?“ Seine Augen lagen im Schatten seiner Kapuze. Seine Gesichtszüge verrieten nicht, ob das ein Scherz sein sollte.
    Ich schüttelte den Kopf und mir wurde schwindelig. Ich spürte Rokans Hand an meinem Arm und griff nach seiner Schulter, hielt mich an ihm fest.
    „Wo ist sie?“, flüsterte ich. Meine Stimme klang dumpf in meinen Ohren, als spräche ich unter einer Schneeschicht. Mir war kalt, meine Gedanken wirbelten wie Flocken durch meinen Kopf.
    Rokan schob die Kapuze in den Nacken. Seine Augen verblüfften mich wieder, auch wenn ich sie schon gesehen hatte. Diese Farblosigkeit verlieh seinem Blick etwas Kaltes, Eisiges. Aber seine Stimme war warm.
    „Wen suchst du denn?“, fragte er, als er den Stuhl vom Boden aufhob und ich mich darauf setzte.
    „Agnès. Wen sollte ich in ihrem Haus wohl sonst suchen?“
    Er sah mir ins Gesicht und mir wurde noch kälter. „Du hast sie gekannt?“
    „Aber ja doch, weißt du, wo ich sie finden kann?“
    Er legte die Hand auf meine Schulter, seine Blicke wanderten zum Kamin, blieben einen Moment an dem Bild hängen.
    Meine Hände zitterten, mein Hals war zu eng. Ich räusperte mich. „Was meinst du überhaupt mit gekannt? Ich habe doch gestern noch mir ihr geredet … Sie gesehen, meine ich.“
    Rokan ging vor mir in die Hocke. „Catrin“, flüsterte er. „Agnès ist schon vor Jahren verschwunden.“

10
    M eine Beine waren in eine Decke gewickelt, meine Hände zitterten immer noch, als ich sie um das Weinglas schloss. Wie in Trance hatte ich mich von Rokan über den Dorfplatz führen lassen, an der Kirche und Maries Haus vorbei, in den Wald hinein. Ich hatte meine Füße nicht erkennen können und es fühlte sich an, als berührten sie kaum den Boden. Alles war weiß und weich und neblig.
    Rokans Hütte lag hinter einigen Kiefern und war vom Dorf aus nicht zu sehen gewesen. Sie bestand aus einem einzigen großen Raum. Ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle, ein Kamin. Ein Regal, aus

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