Die Saga von Thale 03 - Die Hüterin des Elfenfeuers
Prolog
Es war kalt.
So kalt, wie Naemy es nie zuvor gespürt hatte. Die Kälte lastete bleiern und unheilvoll und trug
den Atem des Todes in sich. Auch das allgegenwärtige grünliche Licht glomm frostig, und der tosende Wind schnitt mit beißenden Krallen in die ungeschützte Haut der hoch gewachsenen Nebelelfe, die in dieser abweisenden Welt gefangen war. Weit unter sich erkannte Naemy die kreisrunde Öffnung, durch die der Sog des Windes sie gerissen hatte, und dahinter die kauernde Gestalt eines Mädchens auf einer schwarzen Obsidianplatte. Kiany!
Ich muss zurück, schoss es ihr durch den Kopf. Das Tor muss geschlossen werden! Verzweifelt
umklammerte die Nebelelfe das in Silber gefasste Amulett mit dem orangefarbenen Stein, das einst der Auserwählten Sunnivah gehört hatte, während sie schwerelos inmitten des grünen Leuchtens dahinglitt. Der Wind zerrte an ihren langen blaugrauen Haaren und drang mühelos durch die Nähte der hellen Lederkleidung, die sie nur dürftig schützte.
Verzweifelt ruderte sie mit den Armen, doch so sehr sie sich auch mühte, all ihre Anstrengungen blieben vergebens, das Tor unerreichbar. Naemys Herz raste. Sie musste an die Öffnung gelangen und das Tor schließen, sonst wäre alles verloren.
Unvermittelt schoss ein dünner orangefarbener Strahl aus ihrer geballten Faust und traf den Rand des Durchlasses. Ein greller Blitz, der mit einem gewaltigen Donnerschlag einherging, erfüllte die lichtdurchflutete Weite des Raums, und Naemy schloss geblendet die Augen. Licht und Lärm peinigten ihre empfindlichen Sinne, doch das war nebensächlich: Ihre Sorge galt dem Amulett. Was auch geschah, sie durfte es nicht loslassen. Irgendwo hinter dem Getöse lauerte An-Rukhbar, jener finstere, grausame Herrscher, der Thale viele Sommer lang geknechtet hatte und in dessen Namen ihr Volk dahin gemetzelt worden war.
Als der Donner verebbte und Naemy die Augen wieder öffnete, waren die Gestalt des Mädchens und die kreisrunde Öffnung verschwunden. Das Tor war geschlossen!
Das Erste, was sie spürte, war Erleichterung: Sie hatte es vollbracht. Der grausame Tyrann würde nicht noch einmal in ihre Welt eindringen können. Doch auch für sie gab es kein Zurück. Ihr Schicksal war besiegelt. Ein paar Herzschläge lang blieb ihr noch Zeit, sich darüber zu wundern, wie wenig Angst ihr der Gedanke einflößte, dass ihr Leben hier und jetzt enden würde; dann schob sich ein gewaltiger schwarzer Schatten aus den Tiefen des Raums auf sie zu und verdrängte alles Denken. An-Rukhbar nahte!
Die Elfe machte sich bereit für den letzten Kampf. Sie hörte das wütende Brüllen und Toben des Dämonenfürsten über das Tosen des Sturms hinweg, der nun mit unbändiger Wut gegen das geschlossene Tor brandete, als reichte die zerstörerische Kraft allein aus, um es wieder zu öffnen.
»GIB ... ES ... MIR!« Die dröhnenden Worte hallten durch Naemys Gedanken. Sie klangen fremd und gebrochen, als bereiteten sie dem Sprechenden große Mühe. Doch es lag eine machtvoll befehlende Magie in ihnen, der sich die Nebelelfe nur mit enormer Willensanstrengung zu widersetzen vermochte.
»GIB ... ES ... MIR!«, forderte die dröhnende Stimme erneut.
Naemy umklammerte das Amulett fester. »Niemals!«, rief sie dem Schatten entgegen. Die hellgrauen Augen zu schmalen Schlitzen verengt, blickte sie sich um in der Hoffnung, irgendwo einen Fluchtweg auszumachen. Doch die Helligkeit ringsumher machte es ihr unmöglich, weiter als drei Längen zu sehen; die Welt, deren Gefangene sie war, gab nichts von sich preis.
»DAS AMULETT ... IST MEIN!«, dröhnte An-Rukhbars Stimme durch den Raum. Die finstere Gestalt des Dämonenfürsten war inzwischen ganz nah und ragte wie die Ausgeburt alles Bösen vor Naemy auf. Einzelheiten waren kaum zu erkennen, nur dort, wo sich der Kopf befand, leuchteten zwei blutrote Ovale wie glühende Kohlenstücke in der wogenden Schwärze der Furcht einflößenden Gestalt.
»MEIN!«, wiederholte er, und Naemy fühlte, dass sie die Hand wie unter Zwang öffnete.
Nein, dachte sie entsetzt und wollte das Amulett festhalten, doch die Finger gehorchten ihr nicht länger. Hilflos musste sie mit ansehen, wie sie sich langsam öffneten und das Kleinod zum Vorschein kam. Gleichzeitig spürte sie, dass sie nur noch mühsam atmen konnte. Luft schien es in dieser lebensfeindlichen Dimension nicht zu geben, und das bisschen, das durch die Öffnung aus ihrer Welt eingedrungen war, war inzwischen fast
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