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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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war angespannt. Alle paar Schritte blieb er stehen und lauschte. Es war unglaublich still, zu still für die Tageszeit. Kein Kindergeschrei, keine Arbeiter auf den Feldern, nicht einmal Hundegebell aus dem Dorf war zu hören, nur das Klopfen eines Spechts hallte aus der Tiefe des Waldes, als käme es durch einen Trichter.
    Auch Jacques war schweigsam und in sich gekehrt, er hatte seit dem Morgen kaum ein Wort geredet und schien mit seinen Gedanken an einem anderen Ort zu sein.
    „Ist alles in Ordnung?“, fragte ich ihn, als Rokan wieder einmal innehielt und sich suchend umsah.
    Jacques starrte einen Augenblick lang auf seine Hände, dann sah er mich an. „Ich erinnere mich“, sagte er. „Es liegt alles so klar vor mir. Aber es verändert sich dauernd.“
    Seine Augen glänzten feucht und ich nahm seine Hand. „Ist es denn so schlimm?“
    „Das Feuer“, flüsterte er. „Der Gestank nach verkohltem Fleisch.“ Er stützte sich schwer auf meine Schulter und würgte. „Sie schreit. Ihre Stimme bohrt sich in meinen Kopf. Und im nächsten Moment sehe ich sie lachen. Was ist die Wahrheit, Catrin?“
    Ich nahm ihn in die Arme und hielt ihn fest. Wiegte ihn wie ein Baby.
    „Es verändert sich pausenlos“, sagte Rokan. „Nichts ist mehr sicher. Die Erinnerung wird neblig, dann ist sie wieder klar wie ein Bergsee. Es ist so schwer, zu entscheiden, was wirklich ist und was nicht.“ Er rieb sich über die Schläfe. „Ich spüre den Riss. Wir sollten uns beeilen. Hier stimmt etwas nicht. Als wäre die Zeit in einen Brunnenschacht gefallen und drehte sich im Strudel des dunklen Wassers.“
    „Wohin?“, fragte ich.
    Rokan deutete auf ein paar Birken, die abseits des Waldes auf einer Wiese standen. Die Luft flimmerte um die Stämme wie in großer Hitze. Ich kniff die Augen zusammen. Ein Sturm aus Farben wirbelte zwischen den Ästen hindurch. Färbte die Blätter rot und braun, gelb und grün. Mir wurde übel und ich wendete den Blick ab.
    „Wenn wir die Wiese überqueren, sind wir schutzlos, das gefällt mir nicht.“ Rokan zog die Tragegurte des Rucksacks fester. „Aber wir haben keine Wahl, wir werden einfach rennen. Seid ihr bereit? Dann los!“
    Wir sprinteten auf die Bäume zu. Das Flimmern wurde greller. Die Farben wechselten in einer solchen Geschwindigkeit, dass bald nur noch ein verwaschener Farbklecks zu erkennen war. Und dann wich alle Farbe aus der Umgebung und dort, wo eben noch die Birken gestanden hatten, war nichts mehr. Gar nichts.
    „Das Ding!“ Eine schrille Stimme. Ich sah mich um und stolperte. Ein scharfer Schmerz schoss in meinen Knöchel und ich schrie auf.
    „Komm!“ Rokan packte meinen Arm, zerrte mich hinter sich her.
    Ich hörte Stimmen. Immer wieder hysterische Schreie. „Dort! Fangt es. Es muss brennen!“
    Jacques hatte meinen anderen Arm untergehakt, er keuchte. „Sieh dich nicht um, lauf, um krâs willen, lauf!“
    Wir hatten die Stelle fast erreicht, an der eben noch die Birken gestanden hatten, als grobe Finger in meine Haare griffen. Jacques schlug rücksichtslos um sich. Nur noch wenige Meter.
    „Springt!“, schrie Rokan. „Jetzt!“
    Wie ein einziger Körper sprangen wir dem Riss entgegen. Die Schreie unserer Verfolger verflüchtigten sich, machten einem Summen Platz, das meine Magenwände vibrieren ließ. Im Fallen drehte ich den Kopf und sah in Dorleins weit aufgerissene Augen. Sie streckte den Arm nach mir aus. Ihre Gesichtszüge wurden schwammig, ihr Kopf zog sich zusammen, blähte sich zu dreifacher Größe auf und zerplatzte. Bäume, Himmel und Wolken wurden von einem mächtigen Strudel mitgerissen, vermischten sich zu einer flimmernden Masse und die Landschaft zersplitterte in einer gewaltigen Farbexplosion. Dann war alles still und … Nichts.

Teil 3: rot
     

22
    M eine Eingeweide wirbelten durcheinander. Alles um mich herum drehte sich. Oder war ich es, die sich drehte? Ich versuchte meinen Blick an irgendetwas festzuheften, doch ich bekam nichts zu fassen. Nur Farben und Formen, die mein Gehirn nicht zu etwas Erkennbarem zusammensetzen konnte. Ich spürte Rokan und Jacques neben mir. Husten, Röcheln und ein Schrei. Es roch nach Pfefferminz und Zitronenmelisse, in der nächsten Sekunde nach brennenden Autoreifen. Bienenwachskerzen, Pfefferkuchen, Autoabgase, Jasmin, Kiefernharz, Salmiak. Ich würgte und erbrach mich in einen Papierkorb, stützte mich an der Wand ab und lehnte die Stirn an die samtige Tapete. Gedämpfte Geigenmusik. Die Musiker schienen

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