Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
Vom Netzwerk:
„Das ist nur eine Armbanduhr. Nichts Besonderes.“ Ich konnte die Enttäuschung in seinem Gesicht lesen, als ich die Arme verschränkte und die Uhr unter meinem Mantel verschwand.
    „Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit“, sagte er. Obwohl er so dicht bei mir stand, konnte ich ihn schlecht verstehen, so leise, fast tonlos war seine Stimme. Er deutete eine Verbeugung an. „Ich bin Rot, aber jeder kennt mich als den Uhrmacher.“
    „Catrin“, antwortete ich knapp und ließ meine Blicke unauffällig über seinen verschlissenen Gehrock gleiten. Darunter trug er eine rot und blau gestreifte Weste, an der zwei Knöpfe fehlten. Seine Kleidung war zerknittert, als hätte er darin geschlafen, und sie roch nach Mottenkugeln. „Sagen Sie, Herr Rot …“
    „Nur Rot bitte“, fiel er mir ins Wort und ich sah, dass einer seiner Schneidezähne abgebrochen war. „Oder Uhrmacher, wenn‘s beliebt.“
    „Also, Rot, können Sie mir sagen, wo ich hier bin?“
    Er schob sich die Brille in die Stirn und sah mich lange an, immer wieder glitt sein Blick wehmütig an meinem Arm entlang. „Wo Sie sind?“ Er trat einen Schritt zurück und spreizte die Arme. Das Ticken schien noch lauter zu werden. „Sie sind an dem Ort, wo die Suchenden und Findenden, die Müden und Ruhelosen, die Tugendhaften, die Streuner, die Asketen und Verschwender ihre Seele zu Markte tragen.“ Sein Lachen vermischte sich mit dem Ticken zu einer schnurrenden Melodie. „Was Sie auch suchen, wenn Sie es hier nicht finden, dann existiert es nicht. Der Vater sorgt für seine Kinder“, kurze Stille, „und seine Kinder sorgen für ihn.“ Dann setzte ein Dröhnen ein, dass ich dachte mein Trommelfell müsste platzen. Klingeln, Läuten, Kuckucksrufe. Ich presste die Hände auf die Ohren und sank in die Knie. Rot lief aufgeregt von Uhr zu Uhr, seine Lippen zu einem glückseligen Lächeln verzogen.
    „Ihr seid so zuverlässig“, sagte er in die Stille danach. „Nun“, er half mir auf die Beine, wobei meine Armbanduhr zum Vorschein kam, „welche der Attraktionen haben Sie sich bereits angesehen?“
    „Ich bin gerade erst angekommen“, sagte ich. In meinen Ohren rauschte und klingelte es.
    „Oh, dann führte der erste Weg Sie zu Rot? Das ist ganz formidabel.“ Ohne ein weiteres Wort setzte er sich an seinen Tisch und nahm seine Arbeit wieder auf.
    „Ich suche jemanden“, sagte ich, doch Rot schwieg. Mit einem Seufzen nahm ich meine Armbanduhr ab und trat an den Tisch. Rot schielte auf die Uhr, tat aber unbeteiligt und beschäftigt. „Vielleicht haben Sie die beiden gesehen?“ Ich schob einige Schachteln zur Seite und legte die Uhr auf die staubige Tischplatte. Als er die Hand danach ausstreckte, zog ich sie zurück.
    „Es gehen viele ein und aus“, sagte er, „und nur selten verirrt sich jemand in meine Werkstatt.“
    Ich legte die Uhr um mein Handgelenk.
    „Aber“, fuhr er fort, „jeder landet irgendwann im schrulligen Schrank. Jeder!“
    „Und wo finde ich den?“
    „Man findet was man sucht“, die Brille wieder in die Stirn geschoben, “am Ort der tausend Farben.“
    Ich drückte ihm die Armbanduhr in die Hand und er begann sofort das Gehäuse aufzuschrauben. „Ah“, machte er. „Das ist ja … Oh!“
    Der Boden begann zu vibrieren und ich hielt mich erschrocken an der Tischkante fest. „Was ist das?“
    „Faszinierend!“ Rot sah nicht auf und breitete das Innenleben der Uhr auf einem Taschentuch aus. Er betrachtete die Knopfbatterie und schnippte sie achtlos auf den Fußboden. „Wir legen ab. Zu spät. Schon wieder. Niemand scheint mehr Wert auf Pünktlichkeit zu legen. Das ist mehr als enttäuschend.“
    Das Vibrieren wurde zu einem Brummen und der Boden begann zu schwanken. „Wir legen ab?“, sagte ich. „Das ist ein Schiff?“
    Jetzt sah Rot einen Moment auf und schüttelte den Kopf. „Was haben Sie denn gedacht, wie man sich sonst auf der Suppe fortbewegen könnte?“
    „Ein Schiff“, flüsterte ich. „Das Couleur ist eine Art Vergnügungsdampfer?“
    „Ein Vergnügen ist es nicht immer, aber ja, der Vater legt Wert auf Mobilität und Ungebundenheit“, wieder den Zahnrädern zugewandt, „und auf seine Einnahmen. Die Steuereintreiber sind penetrant, aber unflexibel.“
    „Wo werden wir anlegen? Und wann?“
    „Geehrte Frau Catrin“, sagte er gespreizt. „Das weiß nur der Vater. Und warum sollte man ankommen wollen? Zu welchem Zweck?“
    Meine Gedanken schwirrten durch meinen Kopf wie das Ticken durch den Raum.

Weitere Kostenlose Bücher