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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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ich hatte es einfach nicht gekonnt. Jedes Zimmer, jedes Möbelstück barg so viele Erinnerungen und ich hatte den Gedanken nicht ertragen können, Großmutters Gegenwart zu spüren und zu wissen, dass ich sie niemals wiedersehen würde.
    Autoreifen knirschten auf dem Kies in der Einfahrt. Der Rabe flatterte in den alten Kirschbaum und ich nahm den Wasserkocher aus der Halterung. Meine Finger zitterten ein wenig, als ich das Wasser über die Teeblätter goss.
    Fast fünf Jahre hatte ich Lizzie nicht mehr gesehen und obwohl ich versucht hatte, sie zu vergessen, wie sie mich offenbar vergessen hatte, war sie doch immer in meinen Gedanken gewesen.
    Der Rabe krächzte. „Ich weiß“, flüsterte ich und schon waren Lizzies Schritte im Wohnzimmer zu hören.
    Sie stand einen Augenblick still in der Stube, atmete hörbar ein und aus, dann rief sie nach mir. „Cat? Bist du da?“
    Ihre Stimme klang belegt, ein wenig rauchig.
    „In der Küche.“ Ich räusperte mich. „Möchtest du Tee?“
    „ Hier hat sich überhaupt nichts verändert .“ Sie lehnte mit verschränkten Armen im Türrahmen, als ich mich umdrehte.
    „Nein“, sagte ich. „Nur wir beide.“
    Wir tranken unseren Tee am Küchentisch. Ich fuhr mit den Fingerspitzen die Kratzer in der Platte nach. Das Schweigen hing schwer und drückend zwischen uns, auch wenn wir redeten.
    Lizzie hatte gerade eine kurze, aber heftige Beziehung beendet und sich in den Kopf gesetzt ein paar Monate an der Côte d’Azur auszuspannen.
    „Vielleicht auch ein Jahr“, sagte sie. „Mein Körper braucht Sonne und ich habe mir Urlaub verdient.“
    Wie sie an ihrem Tee nippte und mit aufeinander gepressten Lippen aus dem Fenster sah, erinnerte sie mich an unsere Mutter.
    „Und was ist mit deinem Job?“, fragte ich. „Kannst du den einfach so aufgeben?“
    Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Mein Job hatte sich erledigt, als ich diesem aufgeblasenen Arsch den Laufpass gegeben habe.“
    „Dein Chef?“
    „Hm“, brummelte sie nur und starrte in ihre Tasse.
    Ich atmete tief durch. „Was hältst du davon, wenn wir hier erst mal sauber machen, bevor wir Rosies Sachen durchsehen? Ich habe keine große Lust heute Nacht an dem ganzen Staub zu ersticken.“
    „Ich möchte das so schnell wie möglich hinter mich bringen, Cat.“ Sie sah mir kurz in die Augen und senkte den Blick. Doch dann nickte sie. „Warum eigentlich nicht.“
    Ich hatte nicht vor Großmutters Haus zu verkaufen, aber ich konnte es mir nicht leisten, Lizzie auszubezahlen, und ich hoffte, dass sie es sich anders überlegen würde, wenn sie sich an die schönen Zeiten erinnerte, die wir zusammen hier verbracht hatten.
    Keiner von uns mochte in Großmutters Bett schlafen, also brachten wir unsere Sachen in unser altes Kinderzimmer. Dann begannen wir das Haus von Spinnweben und Staub zu befreien.

    I ch nahm die Gardine vom Wohnzimmerfenster und Lizzie stöberte in Großmutters Schallplattensammlung. „Ah, da ist sie ja“, sagte sie und kurz darauf hörte ich das altvertraute Knistern aus den Boxen und die Stimme von Johnny Cash.
    Ich setzte mich auf die oberste Stufe der Leiter und sah Lizzie zu, wie sie auf ihrem Daumennagel kaute. Tonlos sang sie den Text von Give my love to Rose mit.
    „Eine Million Mal wird nicht reichen“, sagte ich und Lizzie lachte. „Ein Wunder, dass sich die Platte überhaupt noch abspielen lässt.“ Ich schluckte . „Ich vermisse Rosie immer noch.“
    Lizzie wischte sich über die Augen und murmelte etwas von verdammtem Staub. Dann ging sie die Treppe nach oben.
    „Ich nehme mir mal das Bad vor“, rief sie und ich hörte eine Tür klappern.
    Der Arm des Plattenspielers legte sich mit einem Klacken auf die Halterung und dann war alles still. Nur der Wind spielte mit den Fensterläden, schlug sie rhythmisch an die Hauswand. Lass dich nicht unterkriegen , hatte Rosie immer gesagt, es ist nicht schlimm hinzufallen, solange man wieder aufsteht . Und sie hatte sich nie unterkriegen lassen, nicht von Großvaters Tod, nicht von ihrer Krankheit, aber irgendwann hilft auch kein positives Denken mehr. Der Tod fragt nicht, er nimmt sich wen er will und wann er will.
    Trübsal blasen ist was für Hornisten , das war auch einer ihrer Sprüche gewesen. Ich glaube, die meisten davon hatte sie sich ausgedacht und angepasst, wie es ihr gerade in den Kram passte. Aber es lag immer ein Tropfen Wahrheit darin. „Wie im Sherry“, sagte ich und schüttelte grinsend den Kopf. Energisch klappte

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