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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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    Niemand holte sie ab, denn niemand erwartete sie.
    Nach dem Grenzübergang und den letzten Kontrollen der Vopos – der Volkspolizei, hieß das, so hatte man es ihnen gesagt – standen sie im Interzonenzug am Fenster des letzten Wagens und blickten wortlos auf die vorbei jagenden, gut in der Frucht stehenden Felder, die sauberen Dörfer, die gepflegten Straßen und die bunt lackierten Autos, die manchmal parallel zum Zug mit ihnen eine Strecke fuhren, als sei das Ganze ein Wettrennen zwischen Eisenbahn und Automobil. Ein älterer Mann stolperte durch den Gang, warf die Arme ruckartig hoch, riß die Abteiltüren auf und schrie mit Begeisterung: »Wir sind in Deutschland! Wir sind in Deutschland! Freunde, wir sind endlich da!« Wen er greifen konnte, den umarmte er und küßte ihn auf die Wangen. Dann lehnte er sich erschöpft gegen ein Gangfenster, drückte das Gesicht gegen die fleckige Scheibe und weinte leise in sich hinein.
    Vor vier Tagen waren sie von Moskau abgefahren. Aber vorher, oje, da hatte es noch einen Abschied gegeben, vor dem sie alle Angst gehabt hatten. Im Sammellager war's, wohin man sie alle gebracht hatte, die verwerflichen Idioten, wie man sie nannte. Aus allen Himmelsrichtungen waren sie gekommen, mit Frau und Kindern, mit Koffern, Kartons und Säcken, ein halbes oder gar dreiviertel Leben zusammengeschrumpft auf das Gewicht, das man ›mit zwei Händen wegtragen‹ konnte – wie's in der Ausfuhrerlaubnis hieß –, und dann standen sie Kopf an Kopf vor den Baracken: siebenundzwanzig Männer mit ihren Frauen und dreiundfünfzig Kinder, außerdem sieben Greise und neun Greisinnen sahen den Genossen Kommissar an und hörten stumm, was er sagte.
    »Da seid ihr also!« sagte ein Mann, der sich Kyrill Abramowitsch Konopjow nannte. Er war ein dicker, schwerer Mensch, mit Hängebacken wie ein Hamster und kleinen Augen, die in Fettpolstern fast verschwanden. Schöne, gewichste Stiefel trug er und eine weite, dunkelblaue Leinenjacke über einer braunen Hose. Sein Haar bestand aus kleinen grauen Löckchen, und die kratzte er immerzu, wenn er etwas Wichtiges zu reden hatte. »Wieviel Jahre hat euch Rußland ernährt, ha?! Wie lange war euch Rußland Vater und Mutter zugleich?! Habt ihr nicht alles gehabt, was ein Mensch sich nur wünschen kann? Steht hinter euch nicht der mächtigste Staat der Welt?! Ist die Sowjetunion nicht der sicherste Platz auf unserem Planeten?! Aber nein, nein … sie wollen weg von hier! Weg in den kapitalistischen Westen! Besinnen sich nach einem halben Menschenalter darauf, daß sie Deutsche sind! Deutsche!« Konopjow sprach das Wort aus, als spucke er es gegen die Wand. Dann setzte er sich in Bewegung, schnaufend, und schritt die Front der Stummen ab. Bei jedem blieb er kurz stehen und musterte ihn mit seinen Schweinsäuglein. »Was erwartet ihr vom Westen?« fragte er. »Was ist da besser als bei uns? Wir haben als erste das Weltall erobert, wir sind führend in der Technik, der Medizin, der Kybernetik, der Mathematik, der Agrarreform. Wer hat die besten Schachspieler der Welt, na?! Die besten Turner?! Das schlagkräftigste Heer? Ach, was könnte ich noch alles aufzählen! Morgen wäre ich noch nicht damit fertig! Aber was nutzt es bei euch?! Steht da herum mit euren Habseligkeiten und denkt: Laß ihn nur reden, den braven Genossen Kyrill Abramowitsch – wir sind Deutsche! Das redet er uns nicht weg!« Er trat gegen einen Koffer und lachte kurzatmig. Lange Reden strengten ihn an, weil er mit dem Herzen dabei war, und das Herz war heillos verfettet. »Mehr habt ihr von Rußland nicht übrigbehalten?! Eine Schande ist das!«
    Konopjow strengte sich noch eine Stunde lang an, aber sowohl die Kinder wie die Greise wankten nicht, und an die Männer und Frauen im ›besten Alter‹ war sowieso jedes kluge Wort verloren. Später durchzogen die Ausreisewilligen noch einmal die Schreibstube, um die letzten Papiere zu empfangen: Fahrkarten, den letzten Stempel unter die Genehmigung zur Aussiedlung Deutschstämmiger, die endgültige Unterschrift unter das Dokument, in dem sie versicherten, daß sie keinerlei Ansprüche an die UdSSR mehr hatten, endlich die Grenzüberschrittsbescheinigung und die Ausfuhrerlaubnis für das mehrfach kontrollierte Gepäck.
    Nicht einer unter den Aussiedlern war in der Lage, die Kosten eines Fluges nach Deutschland zu bezahlen, um wie ein wirklich freier Mensch in den Westen zu kommen. Auch eine Fahrkarte für einen der internationalen Züge hatte sich

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