Cotton Malone 04 - Antarctica
sagte sie. »Mein Großvater war ein Nazi. Mein Vater ein Träumer, der im Geist in einer fernen Zeit und an einem fernen Ort gelebt hat. Er kam hierher, um die Wahrheit zu finden, und hat seinem Tod mutig ins Auge gesehen. Meine Mutter versucht seit vier Jahrzehnten, seinen Platz auszufüllen, hat es aber nur geschafft, Christl und mich gegeneinander auszuspielen. Sogar jetzt noch. Hier. Sie hat versucht, uns gegeneinander aufzuhetzen, und war so erfolgreich, dass Christl nun ihretwegen sterben musste.« Sie verstummte, doch in ihrem Blick lag Ergebung. »Als Georg gestorben ist, ist ein großer Teil von mir mit ihm dahingegangen. Ich dachte, ich könnte das Glück finden, indem ich meinen Wohlstand mehre, aber das ist unmöglich.«
»Sie sind die letzte Oberhauser.«
»Wir sind ein erbärmlicher Haufen.«
»Sie könnten das ändern.«
Sie schüttelte den Kopf. »Dazu müsste ich Mutter eine Kugel durch den Kopf jagen.«
Sie drehte sich um und ging auf die Treppe zu. Er sah ihr mit einer merkwürdigen Mischung aus Respekt und Verachtung nach. Er wusste, wohin sie ging.
»Das alles wird Auswirkungen haben«, sagte er. »Christl hatte recht. Man wird die Geschichte neu schreiben.«
Dorothea ging weiter. »Das betrifft mich nicht mehr. Alles muss einmal enden.«
Ihrer Bemerkung merkte man die innere Qual an, und ihre Stimme zitterte. Aber sie hatte recht. Alles war einmal vorbei. Seine militärische Laufbahn war zu Ende gegangen. Seine Tätigkeit bei der Regierung. Seine Ehe. Sein Leben in Georgia. Das Leben seines Vaters.
Und nun traf Dorothea Lindauer eine letzte Entscheidung für sich selbst.
»Viel Glück«, rief er ihr nach.
Sie blieb stehen, drehte sich um und warf ihm ein schwaches Lächeln zu. »Bitte, Herr Malone.« Sie stieß einen langen Atemzug aus und schien sich zu stählen. »Ich muss das alleine machen.« Ihre Augen flehten ihn an.
Er nickte. »Ich bleibe hier.«
Er sah ihr nach, wie sie die Treppe hinaufstieg und durch das Portal in die Stadt ging.
Er sah seinen Vater an, in dessen toten Augen sich kein Fünkchen Licht spiegelte. Er hätte ihm so viel zu sagen. Er würde seinem Vater gerne sagen, dass er ein guter Sohn war, dass er ein guter Offizier der Navy gewesen war, ein guter Agent und, wie er glaubte, auch ein guter Mensch. Sechs Mal war er ausgezeichnet worden. Als Ehemann hatte er versagt, aber er arbeitete daran, seine Sache als Vater besser zu machen. Er wollte immer ein Teil von Garys Leben bleiben. Sein ganzes Erwachsenenleben hindurch hatte er sich gefragt, was seinem eigenen Vater zugestoßen war, und sich das Schlimmste ausgemalt. Traurigerweise war die Realität noch schrecklicher als alles, was er sich ausgedacht hatte. Seine Mutter war ähnlich gequält gewesen wie er selbst. Sie hatte nicht wieder geheiratet. Stattdessen hatte sie ihren Kummer jahrzehntelang mit sich herumgeschleppt und sich selbst immer Mrs. Forrest Malone genannt.
Wie kam es, dass die Vergangenheit niemals zu enden schien?
Ein Schuss ertönte, es klang, als ob ein Ballon unter einer Decke zerplatzte.
Er stellte sich die Szene oben vor.
Dorothea Lindauer hatte ihrem Leben ein Ende gesetzt. Normalerweise betrachtete man Selbstmord als die Tat eines kranken Geistes oder die Folge einer gescheiterten Liebe. Hier war er dagegen die einzige Möglichkeit, einen Wahnsinn zu beenden. Er fragte sich, ob Isabel Oberhauser jemals begreifen würde, was sie angerichtet hatte. Ihr Mann, ihr Enkel und ihre Töchter waren tot.
Einsamkeit beschlich ihn, als er der tiefen Grabesstille lauschte. Ein Sprichwort aus der Bibel kam ihm in den Sinn.
Wer sein Haus zerrüttet, wird Wind erben.
94
Washington, D. C.
Samstag, 22. Dezember
16.15 Uhr
Stephanie betrat das Oval Office. Daniels stand auf und begrüßte sie. Edwin Davis und Diane McCoy saßen bereits.
»Fröhliche Weihnachten«, sagte der Präsident.
Sie wünschte ihm das Gleiche. Er hatte sie gestern Nachmittag aus Atlanta hergerufen und ihr dafür denselben Jet des Geheimdienstes zur Verfügung gestellt, den sie und Davis vor mehr als einer Woche bereits benutzt hatten, um von Asheville nach Fort Lee zu fliegen.
Davis sah gut aus. Sein Gesicht war geheilt, die blauen Flecken waren weg. Er trug einen Anzug mit Krawatte und saß steif auf einem Polsterstuhl. Er hatte wieder seine undurchschaubare Miene aufgesetzt. Sie hatte einen flüchtigen Blick in sein Herz werfen können und fragte sich, ob dieses Privileg nun verhinderte, dass sie ihn jemals besser
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