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Cristóbal

Cristóbal

Titel: Cristóbal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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jemand.
    Mit einem Ruck blickten wir auf, und während wir mit den Füßen im Staub versanken und mit den Köpfen irgendwo zwischen den Häuten steckten, die zum Trocknen von der Decke hingen, sahen wir einen Edelmann. Es war bar jeder Vernunft, doch es schien… der König zu sein, begleitet von zwei Herren, von denen der eine prunkvoll, der andere nüchtern gekleidet war. Mit einem weiteren Ruck erhoben wir uns alle rasch, während sich Andrea der Erscheinung näherte und rot vor Verwirrung «Sire», «Sire», «welche Ehre!» stammelte.
    Er fasste die Hand des Königs und beugte das rechte Knie.
    «Eure Arbeit», ertönte die erhabene Stimme, «hat den Entdeckungen in großem Umfang gedient. Wir sind damit zufrieden.»
    «Oh, Sire! Zu viel der Ehre!»
    Zu unserem Erstaunen hatte sich der Löwe Andrea in ein Lamm verwandelt. Der König hob die rechte Hand, als segnete er ihn.
    «Man hat mir von einem Meisterwerk erzählt.»
    «Von welchem, Majestät?»
    Zu unserer Erleichterung hatte unser Meister seinen Stolz wiedergewonnen: Da seine Werkstatt nichts auslieferte, was nicht vollendet war, sah er sich in seinem Rang den großen Meistern der Malerei ebenbürtig und daher als ausschließlichen Schöpfer von Meisterwerken.
    Der König ging auf diesen Stolz nicht ein und wurde deutlich:
    «Man hat mir von einer höchst bemerkenswerten Darstellung Afrikas berichtet.»
    «Die Karten, die wir Eurer Majestät übergeben, berücksichtigen jeden Fortschritt unseres Wissens.»
    «Es war die Rede von einer Wand…»
    «Man hat Euch nicht vollständig unterrichtet: Es handelt sich dabei nur um eine Skizze, um die Gedanken meiner jungen Angestellten bei der Sache…»
    «Genau. Um die Wirklichkeit der Welt besser zu verstehen, muss mein Geist ein Afrika in passender Größe sehen. Nun, ich habe wenig Zeit…»
    Andrea verwickelte sich in Entschuldigungen für die Unordnung, den Schmutz, den Gestank: Hätte ich doch gewusst, hätte ich die Räume würdiger…
    Der König hörte ihm nicht zu. Mit seinen beiden Begleitern im Gefolge schritt er munter in den hinteren Teil der Werkstatt. Andrea eilte voraus, um ihn vorbei an Tintenbottichen, Tischen, Tischböcken durch unsere Rumpelkammer zu führen.
    «Bartolomeo!»
    «Ja, Meister.»
    Ich musste zum Nachbarn laufen, um Kerzen zu leihen. Schon machte die Nachricht ihre Runde: «Der König ist beim Genuesen.» «Warum bei ihm und nicht bei uns?», murrte man bereits eifersüchtig. Am Eingang drängte sich eine Menschenmenge. Ich ging hindurch, ohne auf die Fragen zu antworten, mit der unendlich hochnäsigen Miene dessen, der sich als etwas Besseres vorkommt.
    Der König ging auf die riesige Karte zu, riss die großen, runden Augen auf und murmelte:
    «Mein Gott! Welch langgestreckter Kontinent! Wo wird er wohl enden?»
    «Von jedem Schiff hören wir, dass er sich noch weiter nach Süden erstreckt.»
    «Könnte es sein, dass er nie endet?»
    Und der König streckte die Hand langsam aus wie jemand, der Angst hat. Angst, sich zu verbrennen, oder Angst, ein zartes Gebilde zu zerstören.
    Mit dem Zeigefinger folgte er der Küste und stellte Fragen. Andrea hielt eigenhändig den Kerzenleuchter für ihn, um die Strecke zu beleuchten.
    «Bin ich noch immer im Königreich Marokko?»
    «Ja, Sire.»
    «Ist das da der Hafen von Salé?»
    «Ja, Sir. Gefürchtet für seine Piraten.»
    «Dann ist es also nicht weit bis zur Wüste. Wir nähern uns wohl dem berühmten Kap Bojador, das uns so lange aufgehalten hat!»
    «Hier ist es: nur eine kleine Ausbuchtung der Küste.»
    «Warum haben wir uns so davor gefürchtet? Mein Vorvater erzählte mir, kein Seemann habe sich über das Kap hinausgewagt. Alle glaubten, dahinter erwarte sie ein Abgrund, der sie schlucken würde.»
    «Alles Unbekannte ist ein Abgrund.»
    «Ziehen wir den Hut vor unseren Seemännern, die ihre Angst überwunden haben.»
    «Ohne die Unterstützung Eurer Majestät hätte kein Schiff Lissabon je mit einem so weiten Ziel verlassen.»
    In diesem Augenblick erschien ein Kammerherr oder jemand von ähnlicher Bedeutung, von Kopf bis Fuß in Gold gekleidet und mit gepudertem Gesicht. Um zu uns zu gelangen, hatte er unser Durcheinander durchqueren müssen, und da er in der Eile nicht darauf geachtet hatte, wo er hintrat, hatte er einen Krug roter Tinte umgeworfen und damit seine Beinkleider bekleckert.
    «Sire, der Botschafter Spaniens verliert die Geduld!»
    «Na, und? Er möge warten! Mein Gott, ich wusste nicht, dass die Inseln der

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