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Cristóbal

Cristóbal

Titel: Cristóbal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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wünschte dem Hofbeamten, dessen Truppe und dem endlosen Afrika viel Glück.
    Die Tür schloss, die Werkstatt schien ins Nichts zu fallen.
    Wir kehrten zu unseren Federn und Tinten zurück. Doch woher wieder die Kraft nehmen? Wir waren enteignet, unseres
Padrão Real,
unserer Perfekten Karte, beraubt worden. Um sie immer weiter zu vervollkommnen, hatten wir so viel Sorgfalt auf alle Einzelheiten verwandt, die doch nur Teile des großen Werks darstellten.
    Als es Abend war, rief jemand nach Andrea, um mit ihm das Programm des nächsten Tages zu besprechen. Stille. Wir stimmten ein und riefen immer lauter. Niemand antwortete.
    Wir suchten, soviel man suchen kann. Zuerst in der Werkstatt, dann in der Stadt. Der Meister war spurlos verschwunden.
    Einen Monat arbeiteten wir noch ohne ihn weiter. Bei jedem Knarren der Tür sprangen wir auf, zitterten jedes Mal, wenn wir auf dem Kai eine Gestalt sichteten, die seiner ähnelte.
    Und dann verließ uns ein Geselle, der sich von einem Konkurrenten hatte anwerben lassen.
    Tags darauf ging ein anderer, in der folgenden Woche zwei weitere.
    So ging die Werkstatt unter.
    Von Meister Andrea hörte ich später nur ein paar verstreute und widersprüchliche Nachrichten. Mal hieß es, er sei in Pisa, eingeladen, um dort die einst ruhmreiche Kartographie wieder in Schwung zu bringen, mal, er sei in Mallorca, dem Vaterland seines Meisters Cresques, um dessen Genie auf die Spur zu kommen; mal hörte man, er halte sich in Venedig auf, denn nirgendwo kann man seine Seele besser verkaufen, mal hieß es sogar, er sei nach Genua zurückgekehrt und sitze in einer Hafenkneipe, wo er nichts tue, als die ein- und auslaufenden Schiffe zu beobachten. In Wirklichkeit war er verschwunden wie seine Werkstatt, in alle Winde zerstreut.
    Unter den Kartographen gibt es viele Männer, die gegen solche zentrifugalen Kräfte zu kämpfen haben.
    Eine Karte dient nicht nur dazu, die Grenze zwischen dem Land und dem Meer zu bestimmen. Sie sammelt die Vielfalt und führt alles zusammen. Oder vielmehr, sie weist allem einen Ort zu.
    Eigentlich ist jede Karte eine Haut. Wie eine Haut schafft sie Identität. Wie eine Haut ist sie ein Sack; sie verhindert, dass die darin enthaltenen Einzelheiten herausfallen.

 
     
     
     
    In Porto Santo hatte der Sensenmann Einzug gehalten. Eines Nachts war Cristóbal aufgewacht. Filipa lag neben ihm und stöhnte. Am Morgen war sie tot. Als man ihren Leichnam ins Grab senkte, sollen die Flügel aller Miniaturwindmühlen angefangen haben, sich zu drehen. Da kein Windhauch die Luft bewegte, sah man in diesem Wunder einen letzten Gruß Filipas: Sie wünschte dem Unternehmen Indien alles Gute.
    Bald nach dem Begräbnis verließen Vater und Sohn die Insel. In Lissabon sah man sie nur noch zu zweit. Seite an Seite waren sie unterwegs, Seite an Seite legten sie sich schlafen, sie sprachen nur noch untereinander, und die Worte des einen durchwirkten die des anderen, sie waren sich so vertraut geworden, dass sie nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren: Dieser Tod hatte sie zu einer einzigen Person gemacht, die in denselben Momenten von denselben Trauergefühlen übermannt und manchmal vom selben Lachen, demselben fröhlichen Glucksen geschüttelt wurde, das sie einen Augenblick später mit dem noch schrecklicheren, weil von der Scham verstärkten Kummer bezahlten, gelacht und folglich vergessen zu haben.
    Ich kümmerte mich, so gut ich konnte, um meinen Bruder und meinen Neffen. Ich hörte ihren Erinnerungen zu. Ich versuchte, sie auf andere Gedanken zu bringen. Es gelang mir, sie zum Lachen zu bringen, und auch, sie zum Weinen zu bringen, wenn ich spürte, dass sich zu viele Tränen angestaut hatten und sie fast erstickten. Wir kehrten zu unseren guten alten Lektüregewohnheiten aus derZeit zurück, als wir mit der Feder in der Hand auf Marco Polos Spuren zum Königreich des Großkhans gereist waren.
    Nur dass uns dieses Mal der kleine Diego begleitete. Mal auf den Knien des einen oder anderen, mal an uns geschmiegt, mal gegenüber am Tisch sitzend und kritzelnd, meist aber schlafend.
    In dieser Besatzung segelten wir durch die
Ymago mundi,
erkundeten Seite für Seite ihre verborgenen Winkel und rangen um die Erhellung der vielen, viel zu vielen dunklen Stellen.
    Doch auf diese Weise wurde der künftige Vizekönig, der heute, direkt über mir, die Hälfte des Welthandels kontrolliert, an die Geographie herangeführt. Seine Vorliebe galt jenen Abschnitten des Buches, in denen von

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