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Cristóbal

Cristóbal

Titel: Cristóbal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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ahnen können, dass einer von diesen Gottverdammten seelenruhig an Bord der
Santa Maria
gegangen war?
    Mein Bruder hatte mir über sein Vorhaben geschrieben. Er beabsichtigte, einen Juden anzuheuern, der sein Übersetzer sein sollte, wenn er in unbekannten Gegenden an Land ging. Er war der Meinung, dass die Leute dieser Rasse, die überall Handel trieben, alle Sprachen beherrschten. Seit Babel habe Gott ihnen, wohl um sie zu strafen, dieses Wissen eingehaucht, das den Kopf hin und her wirft und am Ende verrückt macht.
    Und dann schlief ich ein.
    Ich schäme mich es zuzugeben, aber ich schlief mit einem Mal ein, nachdem ich mich kurz zuvor auf einem Haufen alter Seile niedergelassen hatte.
    Den Grund für diesen Schlaf kenne ich nur zu gut, und ich werde ihn dir sagen, trotz der schlechten Meinung, die du von mir haben wirst, wenn du ihn vernommen hast.
    Erschöpfung war nicht die Ursache. Außerdem, wie könnte ich es wagen, meine Erschöpfung anzuführen, wo sich doch alle diese Familien dort seit Wochen im Kreis drehten, nachdem sie wochenlange Fußmärsche zurückgelegt hatten, um diesen Küstenstreifen zu erreichen?
    Ich habe oft über diesen Schlaf nachgedacht, über diesen abrupten Verlust des Bewusstseins, während alles, der Lärm, die vergifteten Gerüche, das ständige Schubsen, mich hätte wach halten müssen. Und ich begriff, dass meine Liebe zur Kartographie eine andere Form des Schlafes war, die aus derselben Weigerung entsprang, das wahre Gesicht der Welt zu sehen.
    Was ist eine Karte? Die Zusammenfassung und Befriedung eines Stücks Erde. Was ist ein Kartograph? Jemand, der sich so eingerichtet hat, dass er abseits des Lebens und seiner Schrecken lebt. Der das Abbild dem Original vorzieht oder, noch lieber, um seine innere Ruhe noch weniger zu gefährden, das Schema dem Abbild. Was ist ein schlafender Mann? Ein Mann, der flieht.
     

    Welcher Mut, den ich Gott weiß wie zurückerlangte, oder welches Schuldgefühl riss mich aus dieser Lethargie? Ich schlug die Augen auf. Die Finsternis hatte die Farbe gewechselt. Gerade noch gelb, war sie jetzt schwarz. Und dieses Schwarz war heller als das Gelb des Tages. Ein Halbmond beschien viele hundert Familien, die reglos entlang den Kais lagerten. Nachdem sie zu wandern aufgehört hatten, war der Staub, den ihre Schritte aufgewirbelt hatten, wieder auf sie herabgefallen. Daher der feine Sandschleier, der alle bedeckte wie ein Leichentuch, auch die Soldaten und sogar die «Händler»; die Erschöpfung hatte alle überwältigt, die Opfer ebenso wie die Täter, und im Schlaf waren alle vereint.
    Ich riss mich von diesem heimlichen dreckigen Einverständnis los, stieg über die Leiber und entfernte mich vom Hafen. Ein Hafen ist, wenn kein Schiff mehr da ist, nichts anderes als ein mit Wasser gefüllter Graben.
     

    Ich fiel über Schatten. Eine Familie von Schatten. Ich zählte sechs, zwei Erwachsene und vier Kinder, die auf einem Mäuerchen saßen oder vielmehr dort zusammengesackt waren. Alle sechs beugten sich langsam vor und zurück. Das ist die Art, wie die Juden beten. Doch ihr Gebet war vielleicht nichts weiter als Müdigkeit.
    Ich trat zu ihnen.
    «Kommt Ihr von weit her? Kann ich Euch helfen?»
    Der größte Schatten hob langsam den Kopf, als hätte er viele Meilen zurückgelegt. Ein unter einem Bart verstecktes Gesicht wurde sichtbar. Zwei Augen blickten mich an. Ich sehe sie noch heute vor mir, diese beiden Augen. Nie war mir so viel Staunen in einem Blick begegnet: «Hat etwa ein Mensch das Wort an mich gerichtet? Man möchte fast meinen, er spricht mit mir. Er spricht mit mir, ohne zu bellen. Ich dachte, alle Menschen hätten sich in Hunde verwandelt. Aber dieser Mann spricht mit mir. Ich dachte,der König und die Königin hätten auch verboten, mit Juden zu sprechen…»
    Die Brauen über dem Blick zogen sich zusammen, wie die Brauen eines Mannes, der sich müht, der in seinem Gedächtnis kramt.
    Ich wiederholte mein Angebot: Kann ich Euch helfen? Ich erhielt keine Antwort. Der Blick staunte nicht mehr. Wahrscheinlich war er nach näherer Prüfung zu dem Schluss gekommen, dass es sich um ein Trugbild handelte: Es war undenkbar, dass ein Nichtjude auf einen Juden zuging, um ihm Hilfe anzubieten.
    «Bitte, mein Herr, lasst uns.»
    Und er begann zu klagen.
    Er hatte eine Stimme so fein wie ein Rinnsal, das sich im Sommer zwischen Kieseln hindurchschlängelt, so schwach wie das, was dann vom Fluss noch übrig ist.
    «Meine Kehle ist heiser von meinen

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