Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin
stellen uns vor, wir wären uns tatsächlich auf einer Party oder in einem Biergarten begegnet. In eine psychotherapeutische Praxis gehen wir später noch gemeinsam, wenn Sie mögen.
Wie also verhält man sich einer so unbekannten Spezies wie dem Psychotherapeuten gegenüber? Was darf man sagen, was nicht? Man weiß ja, dass die alles auf die Goldwaage legen. Oder ahnt es zumindest.
Im Vertrauen gesagt: Es gibt ein paar Standarderöffnungen, die Psychotherapeuten hassen und die jeder von uns schon Hunderte Male gehört hat. Das erste Mal an dem Tag, als wir an der Uni die erste Psychologievorlesung besucht hatten und uns irgendein komischer Typ abends in der Studentenkneipe fragte, was wir denn so machen. Nichts Böses ahnend sagten wir die Wahrheit und bekamen den Satz zur Antwort, der uns seither dazu bringt, heftiger mit den Augen zu rollen als Mad-Eye Moody.
Bitte einen Trommelwirbel! Hier kommt er, der absolute All-Time-Klassiker:
Oh, dann muss ich ja aufpassen, was ich sage.
Oder:
Oh, dann muss ich ja aufpassen, dass du mich nicht durchschaust.
Nein, Sie müssen nicht aufpassen. Sie können sich entspannen. Auch wir haben nichts gegen einen ganz normalen Feierabend. Wenn wir die Praxistür abends zugeschlossen haben, gibt es tausend Dinge, die wir lieber tun, als anderen Leuten in die Psyche zu gucken. Und die unterscheiden sich wahrscheinlich nicht sehr von den Dingen, die Sie nach der Arbeit viel, viel schöner finden, als Überstunden zu machen.
Mag sein, dass es Gynäkologen gibt, die in ihrer Freizeit nichts lieber tun, als Peepshows zu besuchen. Aber irgendwie glaube ich das nicht so recht. Und ich glaube auch nicht, dass jemand, sobald er preisgibt, dass er Gynäkologe ist, zur Antwort bekommt: »Da muss ich ja aufpassen.« Wahlweise mit dem Zusatz: »Dass du mir nicht unter den Rock gucken willst.«
Also, wenn Sie uns einen Gefallen tun wollen: Reden Sie ganz normal mit uns. Vor allem im Biergarten.
Auch wenn das viel schwieriger ist, als sich auf den Boden zu werfen oder mit den Armen zu fuchteln und dabei laut zu schreien.
Vielleicht beantworte ich einfach mal ein paar der Fragen, die der Psychotherapeut normalerweise auf unbequemen Biergartenbänken oder in der brechend vollen Küche des Partygastgebers gestellt bekommt. In Ordnung?
Mitfühlende Menschen kontern das Outing, man sei Psychotherapeut, gern mit der Bemerkung, der Beruf sei doch gewiss sehr belastend. Man kennt das ja: Die Cousine hat einem wieder einen ganzen Nachmittag lang erzählt, wie gemein ihr Mann ist, oder die Nachbarin kam beim Schwatz über den Gartenzaun nach einem halben Satz auf ihren schwer kranken Bruder zu sprechen. In der Regel fühlt man sich hinterher einfach nur schlecht und belastet und hat nicht das Gefühl, dass man auch nur im Mindesten helfen konnte.
Wie viel belasteter muss sich ein Psychotherapeut fühlen, der dergleichen und Schlimmeres den ganzen Tag zu hören bekommt?
Seltsamerweise kommt niemand auf die Idee, Hebammen zu bedauern. Dabei haben sie den ganzen Tag mit Blut und Schmerzensschreien zu tun. Dagegen geht es bei uns vergleichsweise harmlos zu. Bei Hebammen ist jedem klar, dass das ein erfüllender Beruf sein muss, wenn man miterleben darf, wie etwas Neues und Wunderbares entsteht.
Bei uns ist es das Gleiche. Auch wir dürfen dabei sein, wenn etwas Neues und Wunderbares entsteht. Vielleicht nicht ganz so spektakulär, nicht von einer Minute auf die andere, sondern in kleinen Schritten.
Und was die schrecklichen Dinge betrifft, die wir uns anhören müssen: Man darf das nicht vergleichen mit der nervenden Nachbarin, die einem von ihrem bösen Chef erzählt, oder mit der Freundin, die in einer Beziehungskrisenendlosschleife steckt. Im Privatleben bin ich da auch oft hilflos.
Psychotherapie ist etwas anderes. In dem Augenblick, in dem ein Patient durch die Tür tritt, gibt er uns die Erlaubnis herauszufinden, was wirklich los ist, uns sozusagen mit der Taschenlampe (oder was Höhlenforscher sonst so bei sich tragen) bewaffnet auf den Abstieg in seine Psyche zu machen und dort nachzusehen, wo es hakt.
Ein Fall für den Psychologen
Was mich persönlich am meisten belastet, ist nicht die Arbeit mit denen, die bereits durch die Praxistür gekommen sind. Die geben mir die Erlaubnis, mit ihnen gemeinsam etwas zu verändern. Belastend ist vielmehr, wenn ich von Menschen erzählt bekomme, denen es schlecht geht, und ich oft schon deutlich die Fädchen erkenne, an denen man ziehen müsste,
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