Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)
durch und durch zufrieden. Sie sind nie unglücklich?«
Gute Frage, denke ich, wüsste ich auch gern, ob sich mit genügend Achtsamkeit das gelegentliche eigene Unglücklichsein eines Tages wie von selbst erledigt hat.
Der Mönch lacht.
»Sie haben mir nicht gut zugehört, junger Mann. Ohne Trauer und Leid gibt es kein Glück. Auch ich kann keine Lotusblüte auf Marmorboden züchten.«
30
W as ist hier und jetzt nicht in Ordnung?
Hier und jetzt ist nichts in Ordnung. Daran gibt es auch nichts zu deuteln, hier herrscht Chaos. Und Chaos ist bekanntlich das Gegenteil von Ordnung.
Es ist morgens halb fünf, ich stehe auf dem Düsseldorfer Flughafen, geschätzte dreißigtausend andere Reisende auch, die vom Regen in die Sonne wollen. Die Kaffeebars sind brechend voll, Menschen und Flughafenpersonal hasten umher, jeder rempelt jeden an. Man steht sich im Weg, tut nichts, um das zu ändern, soll doch der andere die zwei Schritte beiseitegehen, ich war schließlich zuerst da. Bevor man diese Hektik hinter sich lassen kann, muss man durch ein Nadelöhr.
Zwei kleine Drehkreuze, bewacht von zwei völlig überforderten Menschen. Sie müssen jede einzelne Bordkarte über eine elektronische Schranke schieben, damit sich das Drehkreuz bewegen lässt und der Weg Richtung Gates und Sicherheitskontrolle frei wird.
Die beiden Angestellten stehen auf völlig verlorenem Posten, vermeiden geflissentlich den Blick nach vorn. Dort würden sie zwei Monster-Menschenschlangen sehen, die von Minute zu Minute länger und damit auch angriffslustiger werden. Mindestens dreihundert Meter misst jede Schlange. Nein, ich übertreibe nicht, auch Frauen wissen, wie lang dreihundert Metersind, vor allem joggende Frauen, denen der Trainer auf der Zielgeraden sagt, komm, das schaffst du noch, das sind höchstens noch dreihundert Meter.
Die Rücksichtslosen drängen sich nach vorn, was die Lämmer, die sich geduldig angestellt haben, immer wieder um Meter zurückwirft. Ich gehöre zu den Lämmern, drohe auszurasten, stumm erst mal, laut traue ich mich nicht. Es geht nicht voran, ich denke, ich könnte den Flug verpassen, und dann ist mein Koffer in Spanien und ich bin noch immer Teil einer Monsterschlange, die vom Düsseldorfer Flughafen Besitz ergriffen hat. Ich will nicht, nicht den Lärm, die Unordnung, ich will hier nicht stehen … ich versuche es mit Atmen, sehr bewusst, sehr tief.
Was ist hier und jetzt nicht in Ordnung?
Im Hier und Jetzt, in diesem Augenblick jedenfalls, habe ich mein Flugzeug noch nicht verpasst, hinter mir, vor mir, neben mir sind ähnlich genervte Menschen, wir drängeln mit vereinten Kräften die Vordrängler nach hinten. Das ist im Prinzip ganz in Ordnung.
Ich zwinge meinen Blick nach oben, die Decke des Düsseldorfer Flughafens hat eine sehr lichte Höhe, ist eine architektonisch ungewöhnlich interessante Konstruktion. Was wohl den Architekten bewegt haben mag, als er statt Stahlbeton … Ich denke mir noch mehr solchen baustatischen Schwachsinn zusammen und weiß genau, dass ich währenddessen auf Zehenspitzen um einen Vulkan tanze. Um meinen eigenen. Ich könnte jederzeit explodieren, denn ich will nicht mehr warten, die Schlange soll sich jetzt sofort auflösen, ich will ins Flugzeug und weg.
»Kann diese Glocke fliegen?«
Dieser Satz aus dem Achtsamkeitskurs hat sich plötzlich in meinen zornigen Gedanken nach vorn geschoben. Jener Satz, mit dem es gelingt, Dinge und Menschen auf wundersame Weise zu erden. Die Glocke wird zu Beginn und am Ende einer Meditation geschlagen. Sie kann nur klingen, die Glocke, mehr nicht. Auf keinen Fall wird sie fliegen.
Ich will, dass sich jetzt sofort auf diesem Flughafen alles zum Guten wendet, Ruhe einkehrt und ich ohne Mühe zu meinem Flugzeug komme. Das wird nicht passieren, das ist völlig ausgeschlossen. Denn so wenig wie eine Glocke fliegen kann, wird sich die Flughafensituation binnen weniger Minuten entspannen können. Es gibt Dinge, die nicht in meiner Hand liegen. Die ich nicht ändern kann. Was ich ändern kann, ist meine Einstellung zu ihnen.
Atmen hilft, den Augenblick zu spüren, nur das wahrzunehmen, was hier und jetzt passiert. Den kleinen Jungen zum Beispiel, der seine Spielzeugautos mit Inbrunst um die Beine der Wartenden bugsiert und ein Formel-1-Rennen veranstaltet. Keine fliegende Glocke in Sicht, also atme ich ein bisschen, schaue mir die gewaltige Hallenkonstruktion in Ruhe an, beglückwünsche im Stillen die Flughafenerbauer zu ihren schönen
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