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Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)

Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)

Titel: Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Westermann
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Jesus reicht mir eine Art Eisbärfell mit Ärmeln, in das ich hineinrutsche. Aus dem CD -Player kommt ein sanftes Säuseln, das sich steigert, lauter wird, in ein heftiges Dröhnen übergeht, Krachen, Pfeifen, Stampfen. Die Trompeten von Jericho stimmen in den Lärm mit ein. Ich sehe Halbweltboxer in goldenen Umhängen, die sich mit schweißnassen Körpern ihren Weg Richtung Ring bahnen, wo sie vermutlich gleich ordentlich vermöbelt werden. Ich atme schnell, mir wird warm, vielleicht beschleunigt der Krach auch den Puls. Ein bisschen mulmig ist mir schon auch, weil ich nicht weiß, was noch kommt. Ist das jetzt schon die Trance, merke ich nur nichts, weil es mir am nötigen Spirit fehlt?
    Der Lärm zieht sich bereits beträchtlich in die Länge, als die Musik plötzlich abbricht. Man hört das Knacken einer CD , und dann passiert es. Mit Macht und ganz leise. Orgelmusik. Und ich fange wie auf Befehl an zu weinen. Kann der arme Jesus nicht wissen, aber das passiert mir bei Orgelmusik immer. Ich muss weinen. Nein, ich muss nicht, ich will. Brauche mich nicht einmal anzustrengen, es läuft wie von selbst. Am Heiligen Abend, wenn von der Empore ein mächtiges »O Du fröhliche« ins Kirchenschiff braust. Geht aber auch im August, wenn ich im Urlaub in einem kühlen Gotteshaus Stille suche und der Küster nur mal eben eine Tonleiter übt. Auf der Liege, während die geistige Welt mich beobachtet, wird es richtig heftig mit dem Weinen, ich will gar nicht wissen, was da von innen nach außen drängt, aber es ist eine Menge.
    Als sich die Orgel beruhigt hat, spielt irgendein James-Last-Verschnitt Tröstendes, lange genug, um mich wieder einzukriegen. Jesus schiebt mir Taschentücher hin, damit ich das Eisbärenfell nicht gänzlich vollsabbere. Am Schluss hat die Orgel einen weiteren Einsatz, bäumt sich noch einmal volltönend auf, ich kriege einen letzten Tränenschub.
    Die Musik ist zu Ende, ich liege ein Weilchen still, beruhige mich. Als ich mich aufsetze, drängen sich ein paar übrig gebliebene Schluchzer nach oben, meine Nase ist voll, ich will mich schnäuzen, Jesus reicht mir eine ganze Packung Kleenex.
    Mir fährt ein erschöpftes »O Gott« heraus, er sagt: »Falsch, o Jesus muss es heißen« und ich muss so lachen, dass ich umgehend von der Liege falle, wohl auch, weil ich vergessen habe, wie leicht ich mit Kleidergröße 40 inzwischen geworden bin.

     
    Es gibt bei mir wohl eine Schnelltrasse, die das Innere der Ohrmuschel direkt mit dem Tränenkanal verbindet. Die Verbindung funktioniert nicht immer. Wenn Musicals oder Techno oder Hansi Hinterseer vom Ohr aus Richtung Tränenkanal wollen, passiert nichts, ich mache höchstens das Radio aus. Mit anderer Musik geht es beinahe mühelos.
    Nehmen wir Kinderlieder. Ich sitze mit einer Musikerin in einem Hörfunkstudio, sie gibt Gesangsunterricht und lädt Menschen zu öffentlichem Singen ein. Sie hat ein aufklappbares Klavier mitgebracht, wir werden ein Interview über ihre Arbeit machen, sie will ein paar Lieder singen. Die Sendung läuft am früh Abend, deshalb schlägt sie zur Einstimmung ein Kinderlied vor.
    »Weißt du, wie viel Sternlein stehen«. »Das kennt jeder«, sagt sie, »da kann man zu Hause mitsingen.« Habe ich gefühlte 62 Jahre nicht mehr gesungen, aber der Text ist umgehend wieder da. Die Musikerin und ihr Klavier stimmen sich mit der Technik ab, sie spielt zur Probe ein paarmal die ersten Takte an. Weißt du, wie viel Sternlein ste-he-en, an dem bla-au-en Himmelszelt.
    Schon während des zweiten Versuchs muss ich dringend mal raus, stehe auf der Damentoilette am Waschbecken und frage mich, wie das gleich gehen soll, wenn es ernst wird, in der Live-Sendung. Es wird in der Tat ziemlich ernst, auf der Schnelltrasse ist viel Verkehr, ich kann meine Tränen nicht zurückhalten, und weil Weinen, verursacht durch ein Kinderlied, nicht so einfach zu erklären ist, ohne den therapeutischen Vorschlaghammer rauszuholen, macht die Musikerin freundlicherweise genau das Richtige und redet, ohne Punkt und Komma. Bis ich mich wieder eingekriegt habe.
    Dieselbe Frau lädt in Köln zum öffentlichen Singenein, in kleinen Kneipen, in großen Hallen. »Frau Höpker bittet zum Gesang« heißen ihre regelmäßig ausverkauften Abende.
    Sie klappt dort ihr tragbares Klavier auf, wirft die Texte mit einem Beamer an die Wand, und es geht los. Braucht nur ganz kurze Zeit, bis sich die große Masse Mensch traut, lauthals alles zu geben. Hunderte singen miteinander alte

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