Odo und Lupus 05 - Pilger und Mörder
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D em edlen Volbertus, Prior im Kloster N. sendet sein Vetter Lupus einen aus treuem Herzen kommenden Heilgruß!
Du schreibst mir, mein Lieber, daß Du gerade von einer Wallfahrt nach Rom zurückgekehrt bist. So war es also auch Dir vergönnt, die herrliche Stadt zu sehen, wo unser Heiliger Vater Hadrian waltet und wo Petrus und Paulus, die Apostel des Herrn, und so viele andere das Martyrium erlitten. Ich freue mich, daß Deine fromme Seele ein so erquickendes Bad nehmen durfte, erleichtert aber bin ich, weil dieselbe und auch Dein Leib keinen Schaden erlitten. Erinnerst Du Dich noch, wie es mir erging, als ich seinerzeit als Pilger in Rom weilte? Gottloses Gesindel mißhandelte mich und raubte mich aus, und ich mußte als nackter Bettler, vor den Türen der Kirchen liegend, die Hand ausstrecken. Vielleicht war das eine Prüfung, die der Herr mir auferlegte, und ich muß dafür dankbar sein. Damals war mir jedoch nicht nach Dank zumute. Vielmehr fluchte ich und zürnte ihm, und mehrere Male erlag ich Satans Versuchungen. So verprügelte ich einen Kanoniker, und einmal stahl ich sogar eine goldene Monstranz, die man mir aber wieder abjagte. Als frommer Pilger begann ich, und ich endete als ein Dieb und Raufbold!
Nun war ich zu jener Zeit noch sehr jung, in einem Alter, da man die ganze Welt herausfordern möchte. Du tatest recht daran, lieber Volbertus, die römische Pilgerfahrt erst in vorgeschrittenen Jahren anzutreten. Gefestigt im Glauben, wie Du bist, konnte Dir Satan mit seinen Höllenkünsten nichts mehr anhaben. Ein junger Mönch dagegen, der plötzlich die schützenden Mauern des Klosters verläßt, erliegt allzu leicht den Lockungen des sündigen Lebens. Er ist zu schwach, sich der hundert Arme zu erwehren, die ihn dorthin ziehen, wo es Geld, Wein, Frauen, Bequemlichkeiten und Vergnügungen gibt. Auch für mich begann damals das Unheil in einer römischen Schenke, wo ich, die Regel des heiligen Benedikt sträflich mißachtend, zuviel getrunken hatte.
Noch stärker gefährdet sind auf solchen Pilgerfahrten naturgemäß die Gottgeweihten des weiblichen Geschlechts. Oft ist ihre Tugend ein dünnes Bäumchen, das schon beim ersten Sturm geknickt wird. Wie viele Bräute Christi landeten auf dem Wege nach Rom oder auch dortselbst in Bordellen! Wie viele wurden ihrem himmlischen Bräutigam für immer untreu! Eindringlich empfahl unser heiliger Bonifatius dem Erzbischof von Canterbury, eine Synode möge den Weibspersonen und verschleierten Frauen die häufigen Reisen nach Rom verbieten. „Denn viele“, klagte der heilige Mann, „gehen dabei sittlich zugrunde, und wenige kehren unverletzt zurück.“
Auch der Herr Karl, unser großer König {1} , hat befohlen, die Ordensfrauen besser zu überwachen und das Huren und Umherschweifen zu untersagen. Wir Königsboten haben sogar den besonderen Auftrag, den Bischöfen, Äbten und Äbtissinnen diesbezüglich strenge Weisungen zu erteilen. Wie notwendig und richtig das ist, erfuhren wir erst wieder vor kurzem, auf unserer diesjährigen Reise durch mehrere linksrheinische Grafschaften. Ich werde Dir auf diesen Blättern einen ganz außergewöhnlichen Mordfall schildern, in den wir dabei verwickelt wurden und der die benannten Zustände grell beleuchtet. Da Du auf Deiner eigenen Pilgerreise, wie Du anmerkst, manches Absonderliche gesehen und gehört hast, wirst Du dem, was ich mitteile, Glauben schenken, auch wenn es noch so unglaubhaft klingt. Manchmal aber wirst Du von der Lektüre aufsehen und einen Seufzer zum Himmel schicken.
Dies vorausschickend, lieber Volbertus, habe ich noch eine besondere Bitte. Ich weiß, daß Du meine Berichte gern Brüdern Deines Vertrauens zu lesen gibst. Sei diesmal besonders streng bei der Auswahl! Vor allem jüngere Brüder könnten durch die Lektüre verwirrt werden, da sie das, was an einzelnen Orten geschieht, mangels persönlicher Erfahrung leicht unzulässig verallgemeinern würden. Andere wieder, die Strengen und Unduldsamen, könnten Deine und meine Absicht mißverstehen, mit solchem Lesestoff auch zu belehren und zu warnen. Vermeide also diese Gefahren!
Aus Vorsicht habe ich, wie immer, in meiner Erzählung die Namen der Orte und Personen geändert. Nur daß wir diesmal wieder in den neustrischen Comitaten {2} tätig waren, kann offen mitgeteilt werden. Es wäre ja ohnehin schon nach wenigen Zeilen zu erraten. Vermutlich wird Dir auch gleich der richtige Name des Bischofs Pappolus einfallen, denn die Kunde von seinem
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