Da liegt ein Toter im Brunnen - ein Krimi mitten aus der Provinz
1
Es gab einen Schlag – einen Riesenschlag.
Holz traf Schädel. Oder Schädel traf Holz.
Er sah silberne Sternchen, Kreuzchen und wirre Kreise, die wie winzige Ballerinas vor seinen Augen tanzten, während sein Kopf brummte wie ein alter Kühlschrank.
Er stieß einen dumpfen Laut aus, der wie aus nebelverhangener Ferne an sein Ohr drang. Gleichzeitig spürte er die Spitze eines Nagels, der sich von der Stirn über die linke Augenhöhle langsam in das Innere seines Schädels bohrte. Doch zum Glück stoppte der Eindringling, und eine unsichtbare Hand zog ihn wieder heraus.
Genau in diesem Moment verließ ihn der Schwindel, und er konnte wieder aufatmen.
Hauptkommissar Christoph Rubin, der neue Leiter der Polizeiinspektion von Bad Löwenau, hatte in seinem Büro eben den ersten Earl Grey mit viel Milch zubereitet und sich auf dem Stuhl entspannt nach hinten fallen lassen. Dass dieses bequeme Fallenlassen allerdings kein Ende nehmen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Die Lehne gab nach, als bestehe sie aus Luft – und ließ ihn haltlos ins Leere stürzen.
Rubin ruderte mit den Armen und versuchte vergeblich, die Balance zu halten. Mit der linken Hand verfing er sich in einem Aktenordner im Regal hinter ihm, und das machte die Sache noch schlimmer. Er riss das gesamte Regal um, das laut krachend über ihm zusammenbrach.
Gleichzeitig riss das Regal ein Bild von der Wand, das sich augenblicklich in ein gefährliches Geschoss verwandelte. Es traf Rubin hart an der Stirn und nahm ihm vorübergehend die Besinnung.
Das Bild in einem schweren Eichenrahmen zeigte übrigens eine idyllische Federzeichnung von Bad Löwenau.
Freitag, der Golden Retriever, der zufrieden auf seiner Decke vor sich hin gedöst hatte, bellte dreimal kurz und trocken auf, sprang seinem Herrchen zur Seite und wollte helfen – wusste aber nicht, wie.
Vom Lärm alarmiert stürmte Polizeiobermeister Schwarze in Rubins Büro, verschaffte sich rasch ein Bild von der Lage und konnte ein Grinsen nur schwer verbergen.
»Oje, geht’s wieder, Chef? Ich fürchte, das war ein kleiner Scherz von unserem Hausmeister Schulte.«
»Schulte?«, fragte Rubin verwundert. »Alfred Schulte? Der früher Hausmeister am Gymnasium war?«
»Tja, einmal Hausmeister, immer Hausmeister«, antwortete Schwarze. Und fügte mit einem Schmunzeln hinzu: »Er hat schon einen wirklich komischen Humor, unser Schulte, das muss man sagen.«
Rubin sagte nichts und rieb sich den Nacken.
Das fing ja gut an, dachte er, an diesem regnerischen Morgen im Februar.
Rubin war erst seit drei Tagen Leiter der Polizei von Bad Löwenau. Er war aus der Großen Stadt in die Provinz versetzt worden, weil er über die beste Voraussetzung für die Stelle verfügte: Rubin war ein Bad Löwenauer.
Er war hier geboren und aufgewachsen, hatte am hiesigen Gebrüder-Grimm-Gymnasium sein Abitur gemacht – mit einigermaßen überzeugenden Zensuren – und hatte danach Bad Löwenau verlassen, um in der Großen Stadt die höhere Polizeilaufbahn einzuschlagen.
Das war jetzt fünfundzwanzig Jahre her.
»Ich versuche, Schulte auf seinem Handy zu erreichen, damit er die Sache wieder in Ordnung bringt«, sagte Schwarze.
Er trug eine blitzsaubere Uniform, darunter ein Hemd, das scharf gebügelt war. Rubin trug Sakko, Hemd, Weste und stark verblichene Jeans, die am Saum leicht ausgefranst waren.
Das Haar von Schwarze war grau, glatt und akkurat getrimmt. Rubins Haar war verstrubbelt, und man sah ihm seine fünfundvierzig Jahre nur an den Schläfen an.
Rubin befühlte seine Stirn. Die Stelle, an der ihn der Holzrahmen getroffen hatte, war geschwollen und verursachte einen brennenden Schmerz. Zum Glück dröhnte es nicht mehr in seinem Kopf. Doch an seinem Finger war Blut.
»Die Wunde sollte versorgt werden, Chef. Am besten, Sie gehen damit zu unserer Frau Cerni. Die kennt sich damit aus.«
Rubin stieg die Steintreppe in den ersten Stock hinauf, wo sich das Büro der Polizeimeisterin befand. Freitag blieb in Rubins Büro und schnüffelte an den weithin auf dem Boden verstreuten Akten.
»Oh nein, ist es doch so schlimm?«, sagte die blonde Polizistin halb bestürzt, halb amüsiert, als sie Rubin erblickte. »Ich habe den Lärm bis hier oben gehört. Tut es sehr weh, Chef?«
Rubin schüttelte leicht den Kopf.
»Nehmen Sie es ihm nicht übel, Schulte ist eben so. Das war seine Art zu sagen: ›Willkommen daheim!‹«
Rubin nickte und fragte: »Haben Sie ein Pflaster für mich?«
»Natürlich, der
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