Da liegt ein Toter im Brunnen - ein Krimi mitten aus der Provinz
einziges geöffnet war.
Rubin setzte einen Fuß auf den Brunnenrand, beugte sich vornüber.
Bei dem Toten handelte es sich um einen jungen Mann. Seine Augen waren weit aufgerissen, dunkel und starr.
Seltsam: Mit jeder neuen Leiche erinnerte sich Rubin an den ersten Toten, den er gesehen hatte. Es war sein Großvater gewesen, Rubin war elf Jahre alt. Er hatte nicht glauben können, dass der vertraute Mensch, dessen Gesicht sich über Nacht in eine Wachsmaske verwandelt hatte, nicht mehr am Leben war. Er hatte so ausgesehen, als ob er traumlos schliefe.
Rubin musste schlucken. Heftig wie Pendelschläge pochte sein Herz, und mit dem Pochen begann sein Schädelbrummen von Neuem.
Freitag lief aufgeregt hin und her, unermüdlich zwischen Rubin und Jana Cerni, zwischen Touristen mit Wasserflaschen und Einmachgläsern, die allmählich ungeduldiger wurden.
Der Tote war mit einer sportlichen Winterjacke ohne Kapuze und mit Jeans bekleidet. Sein Rücken lehnte an einem Löwenkopf am Mittelstück des Brunnens, Unterleib und Beine waren unter Wasser.
Am Brunnen befanden sich vier Löwenfiguren, eine pro Himmelsrichtung, aus deren Mäulern Wasserfontänen mit dem kostbaren Elixier sprudelten.
Überraschenderweise wurde der Tote von keiner Fontäne getroffen. Der Löwe spuckte sein Wasser über ihn hinweg in das Auffangbecken, das vom Rand bis zur Mitte eine Länge von über einem Meter hatte.
Das erleichterte den Freunden des Heilwassers das Leben nicht gerade. Man musste sich schon ordentlich recken, um sein Gefäß zu füllen. Wer ein Einmachglas hatte, war deutlich im Vorteil gegenüber dem Heilsuchenden mit handelsüblicher Wasserflasche, der sich durch die Wahl des Gefäßes als Heilwasserdilettant oder als Neuling outete. Meist gingen diese mit einem durchnässten Ärmel nach Hause.
Es hatte auch schon Fälle gegeben, da jemand beim Wasserzapfen in den Brunnen gefallen war. Jedoch hatten die Unglücksraben immer wieder heraussteigen können. Ganz im Gegensatz zu diesem jungen Mann hier.
Gerade als Rubin sich bei Schwarze erkundigen wollte, ob er den Toten identifizieren könne, hörte er jemanden hinter sich in einem seltsamen Tonfall rufen:
»Das ist Serkan! Serkan Arslan. Der Bruder von Hassan!«
Rubin drehte sich um. Der Rufer trug einen eng geschnittenen dreiteiligen Samtanzug in Bordeauxrot und darüber eine gewachste Regenjacke in dunklem British Racing Green. Ein gepunkteter Wollschal war mehrfach um seinen Hals geschlungen, in der Rechten schwenkte er einen riesigen chromgelben Schirm mit der Aufschrift »The war is declared – London calling« . Die ihm vorauseilende Parfumwolke trug eine herbe, rauchige Note.
Rubin brauchte eine kurze Weile, um ihn zu erkennen. Dann streckte er seinem alten Jugendfreund und Schulkameraden die Hand entgegen.
»Bernstein«, sagte er leise, aber mit Nachdruck.
Für einen kurzen Moment vergaß er, wo er war. Er vergaß den Toten, die unruhige Menschenmenge, den ganzen grauen, seltsamen Februarmorgen und fühlte sich in Jugendzeiten zurückversetzt.
»Schön, dich wiederzusehen, Rubin, alter Räuberhauptmann«, sagte Carl Bernstein. Und mit Blick auf den Brunnen fügte er hinzu: »Du hast dir den denkbar besten Zeitpunkt für deine Rückkehr ausgesucht. Allerdings auch ein bisschen schade, nicht wahr? Keine bezaubernde Penelope erwartet die Heimkehr des Helden Odysseus nach Jahren der Irrfahrt, sondern nur – eine einsame Wasserleiche.«
Rubin sagte nichts. Genau so kannte er Bernstein. So war er immer schon gewesen.
Unterdessen preschte Freitag herbei und sprang an Bernstein hoch. Rubin rief: »Aus!«, doch Bernstein johlte und kraulte ihn, und der Golden Retriever jaulte vor Vergnügen. Bernstein puffte und zwickte den Hund, sodass Rubin sich wunderte, warum dieser es einfach so geschehen ließ. Er hatte ganz offensichtlich den größten Spaß.
Äußerlich hatte sich Bernstein kaum verändert, er war noch immer groß, breitschultrig, sportlich. Wann hatten sie einander zum letzten Mal gesehen? Das musste viele Jahre zurückliegen. In der ersten Zeit nach Rubins Weggang hatten sie intensiv Kontakt gehalten, der dann mit der Zeit allerdings immer loser geworden war. Wie das eben so geht. Sie hatten einander versprochen, die Intervalle zwischen den Besuchen zu verkürzen, stattdessen waren sie, ohne dass einer der beiden den Grund gekannt hätte, länger geworden. Schließlich hatte es nicht einmal mehr Anrufe zum Geburtstag gegeben.
Doch was war das? Plötzlich
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