Dämmerschlaf - Roman
getan hatte, zog sie die Schlussfolgerung vor, dass die beiden seit der Scheidung lediglich «gute Freunde» waren. Der Verhaltenskodex der Wyants war ihr immer ein Rätsel geblieben. Nie begegnete sie der Cousine, wenn sie ihren früheren Mann besuchte; einzig Jim ließ es sich angelegen sein, ein paarmal im Jahr an der Tür im oberen Stockwerk zu läuten, und zu Weihnachten schickte er der unsichtbaren Bewohnerin eine Azalee.
Nona lief die Stufen zu Wyants Wohnungstür hinauf. Auf der Schwelle erwartete sie eine dünne, grauhaarige Dame mit düsterer Miene.
«Kommen Sie bitte herein. Er hat einen Gichtanfall, kann nicht an die Tür kommen, und die Köchin musste ich auch erst zum Einkaufen schicken, damit er etwas Leckeres auf den Tisch bekommt.»
«Oh, danke, Cousine Eleanor.» Das Mädchen blickte der Frau mitfühlend in die trüben, traurigen Augen. «Der arme Punkt A! Es tut mir leid, dass er wieder krank ist.»
«Er wa r … unvernünftig. Aber das Schlimmste ist schon vorüber. Es wird ihn aufmuntern, wenn er Sie sieht. Ihr Cousin Stanley ist auch da.»
«So?» Nona zuckte ein wenig zurück, spürte, dass sie leicht errötete.
«Er geht gleich wieder. Mr Wyant wird enttäuscht sein, wenn Sie nicht hereinkommen.»
«Aber natürlich komme ich herein.»
Die ältere Frau lächelte erschöpft und verschwand nach oben, während Nona aus ihrem Pelzmantel schlüpfte. Es war zwecklos, Cousine Eleanor zum Bleiben zu drängen. Wenn man sie sehen wollte, musste man an ihrer Tür läuten.
Arthur Wyants schäbiges Wohnzimmer war voll von Februarsonne, Illustrierten, Zeitungen und Zigarrenasche. In den Regalen standen ein paar Bücher, auch sie schäbig. Einst mochten sie Wyant etwas bedeutet haben, seine Sprache war noch immer durchsetzt mit Spuren früherer Bildung, besonders in Gegenwart von Besuchern wie Nona und Stan Heuston. Aber sein Anspielungsrepertoir legte den Schluss nahe, dass er schon seit Jahren nichts mehr gelesen hatte. Selbst Romane bedeuteten eine zu große Belastung für seine Konzentrationsfähigkeit. Seit Nona denken konnte, beschäftigte er sich nur mit Illustrierten, reich bebilderten Zeitungen und den Lieferungen der allwöchentlichen Skandale. Er interessierte sich außerordentlich für die Privatangelegenheiten der Gesellschaft, die er nicht mehr aufsuchte, machte sich aber in den Gesprächen mit Nona oder Heuston stets über dieses Interesse lustig.
Er saß mit hängenden Schultern, gesenktem Kopf und unbeholfen bandagiertem Fuß in seinem Sessel vergraben, doch auf Nona wirkte er, wie er immer auf sie wirkte: größer, schlanker, stattlicher und kräftiger als alle Männer, die sie kannte. Inzwischen sackte er auch in sich zusammen, wenn er stand, er war vorzeitig gealtert, und vielleicht verband man ihn daher so leicht mit verschwundenen Sitten und Gebräuchen, wie sie allenfalls in seiner frühesten Jugend üblich gewesen sein konnten.
Für Nona würde er jedenfalls immer der Arthur Wyant von der vergilbten Rennplatz-Fotografie auf dem Kaminsims bleiben. Im grauen Gehrock und Zylinder der frühen Achtzigerjahre stand er als größter in einer Reihe anderer großer, ähnlich gekleideter Männer hinter Damen mit Puffärmeln und kleinen Hüten, die schräg auf dem kunstvoll frisierten Haar saßen. Wie friedlich, heiter und gemütlich sie alle wirkten! Nie konnte Nona sie betrachten ohne ein schmerzhaftes Bedauern, dass sie nicht in jenen luxuriösen Zeiten der Dogcarts und Victorias 16 , des gemächlichen Tennisspiels und der Nachmittagsbesuche geboren war.
Noch mehr als seine Gestalt verband sein Gesicht Wyant mit dieser Vergangenheit: der kleine, wohlgeformte Kopf, das krause Haar, das sich über einer schmalen, leicht fliehenden Stirn schon lichtete, die Augen, in denen sich noch ein Zwinkern hielt – Augen, die wahrscheinlich einst, als das Haar noch braun war, blau gewesen und jetzt wie alles andere ausgebleicht waren –, und der dünne, hübsche Schnurrbart über einem zweifelnden, ironisch verzogenen Mund.
Eine romantische Gestalt – oder vielmehr deren verblasste Fotografie. Ja, vielleicht war Arthur Wyant schon immer verblasst gewesen, wie ein reizvolles Spiegelbild in einem blinden Spiegel. Und die langen Gliedmaßen und die gute Haltung waren für einen anderen Mann gedacht, einen Mann, dem wirklich widerfuhr, wovon Wyant nur träumte.
Bei seinem Besucher, wiewohl aus derselben Familie, wäre niemand auf solche Gedanken gekommen. Stanley Heuston war viel jünger, Mitte
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