Dämmerschlaf - Roman
dreißig, und fast alles an ihm war irgendwie durchschnittlich: seine Größe, seine Hautfarbe, seine Gesichtszüge. Aber er hatte eine markante Stirn, einen energischen, spöttischen Zug um den Mund, und nur die kleinen, flinken Augen verrieten etwas von der Unsicherheit und Unentschiedenheit, die er von seiner Wyant-Mutter geerbt hatte.
Als Nona näher trat, streckte Wyant ihr eine dürre, fieberheiße Hand entgegen. «Na, das nenne ich Glück! Stan hat sich gerade fertig gemacht, um beim Nahen deiner Mutter zu fliehen, und stattdessen tauchst du auf!»
Heuston erhob sich und begrüßte Nona mit einer gewissen Förmlichkeit. «Vielleicht sollte ich trotzdem fliehen», sagte er mit einer auffallend angenehmen Stimme. Eindringlich blickte er das Mädchen an.
Sie hob leicht die Hand, weniger um ihn zurückzuhalten oder zu verabschieden, als vielmehr um ihre vollkommene Gleichgültigkeit zu demonstrieren. «Kommt Mutter denn nicht auch gleich?», fragte sie, an Wyant gewandt.
«Nein; ich bin auf morgen verschoben worden. Es muss einen riesigen Erdrutsch gegeben haben, da sie ihre Pläne in letzter Minute geändert hat. Setz dich und erzähl uns alles.»
«Ich weiß von keinem Erdrutsch. Nur dass heute die Abendgesellschaft mit Tanz für Amalasuntha ist.»
«Aha, aber so etwas schafft deine Mutter doch spielend. Du unterschätzt ihre Fähigkeiten. Stan hat gerade Andeutungen von etwas weit Explosiverem gemacht.»
Nona verspürte ein inneres Zittern; würde jetzt Litas Name fallen? Sie warf Heuston einen fast feindseligen Blick zu.
«Oh, Stans Andeutungen…»
«Da siehst du, was Nona von meinen Äußerungen über Städte und Menschen hält.» Heuston zuckte die Achseln. Er war stehen geblieben, als wollte er sich gleich verabschieden, doch wieder fühlte das Mädchen seinen gespannten Blick flehentlich auf sich gerichtet.
«Wartest du, um mich nach Hause zu begleiten? Das brauchst du nicht. Ich habe vor, noch lange zu bleiben», sagte sie und lächelte über ihn hinweg Wyant an, während sie sich auf einem der chintzbezogenen Sessel niederließ.
«Bist du nicht ein bisschen streng mit ihm?», meinte Wyant, nachdem sich die Tür hinter dem Besucher geschlossen hatte. «Es ist doch kein Verbrechen, dich nach Hause begleiten zu wollen.»
Nona machte eine ungeduldige Handbewegung. «Stan langweilt mich.»
«Na ja, er hat nicht gerade den Reiz des Neuen. Oder ist nicht mehr auf der Höhe der Zeit, deiner Zeit. Mir kommen seine Gedanken manchmal ziemlich umstürzlerisch vor, aber in deinen und Litas Kreisen gilt ein junger Mann, der nicht den ganzen Tag tanzt und die ganze Nacht trinkt – oder umgekehrt – vermutlich als unmodern.»
Das Mädchen ging nicht darauf ein, und nach einer kurzen Pause fuhr Wyant in seinem halb spöttischen, halb nörgelnden Ton fort: «Oder ist er vielleicht nicht ausreichend ‹übersinnlich begabt›? Das ist doch das Neueste, nicht wahr? Wenn ihr nicht die Beine hochschmeißt, hegt ihr hochfliegende Gedanken. Das erinnert mich wieder an Stans Neuigkeite n …»
«Ja?», brachte Nona zwischen ausgedörrten Lippen hervor. Ihr Blick wanderte von Wyant zu den glühenden Kohlen im Kamin. Sie wollte jetzt niemandem ins Gesicht sehen.
«Anscheinend bahnt sich ein riesiger Skandal an – einer der schlimmsten, die wir je hatten. Es geht um den Mahatma, du weißt schon, diesen Nigger 17 , von dem deine Mutter immer redet. Im letzten ‹Looker-on› gibt es so eine Andeutung, hie r … Wo steht es denn? Ist ja egal. Was da steht, ist ein Klacks gegen die wirklichen Tatsachen, sagt Stan. Anscheinend haben die Zustände in dieser ‹Schule des östlichen Denkens› – wie nennt er das Haus, Dawnside? – ein solches Ausmaß erreicht, dass die Grant Lindons, deren Tochter sich dorthin ‹zurückgezogen› hat oder wie man das nennt, jetzt eine eingehende Untersuchung fordern. Es heißt, die Polizei will keinen Finger rühren, weil so viele bekannte Leute darin verwickelt sind; aber Lindon hat die Wut gepackt, und er schwört, dass er nicht ruhen wird, bis er den Fall vor Gericht gebracht hat.»
Bei diesen Worten fiel Nona ein Stein vom Herzen. Was kümmerten sie der Mahatma oder die Grant Lindons! Langweilige, altmodische Leute – kein Wunder, dass Bee Lindon solchen Eltern davongelaufen war, obwohl sie bestimmt eine dumme Kuh war. Außerdem verdankten sie dem Mahatma zweifellos Mrs Manfords verringerten Hüftumfang und dass sie weniger nervös war – denn Mrs Manford war manchmal
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