Dämmerschlaf - Roman
diese Lehrmeinungen einander widersprachen. Sie wussten nur, dass sie entschlossen waren, bestimmte Menschen zu zwingen, etwas zu tun, was diese Menschen nicht tun wollten. Nona erinnerte sich beim Blick auf den eng beschriebenen Terminkalender an einen Ausspruch von Arthur Wyant, dem früheren Mann ihrer Mutter: «Deine Mutter und ihre Freundinnen würden gern der ganzen Welt vorschreiben, wie sie ihre Gebete verrichten und sich die Zähne putzen soll.»
Das Mädchen hatte gelacht, wie es immer über Wyants witzige Bemerkungen lachen musste, aber in Wirklichkeit bewunderte sie den Eifer ihrer Mutter, obwohl sie sich manchmal fragte, ob sie ihn nicht ein wenig zu wahllos einsetzte. Nona war die Tochter aus Mrs Manfords zweiter Ehe, und ihr Vater Dexter Manford, der sich nach oben hatte durchboxen müssen, hatte sie gelehrt, schon die Rührigkeit an sich als Tugend zu verehren; wenn er über Paulines Eifer sprach, klang das ganz anders als bei Wyant. Er war dazu erzogen worden, in der Arbeit per se etwas Edles zu sehen, selbst wenn sie ebenso wenig ein sinnvolles Ziel verfolgte wie der Lauf eines Hamsters in seinem Rad. «Vielleicht nimmt sich deine Mutter ein wenig viel vor, aber das ist doch großartig von ihr – sie schont sich nie.»
«Uns auch nicht», fühlte sich Nona manchmal versucht hinzuzufügen, aber Manfords Bewunderung war ansteckend. Ja, Nona bewunderte die uneigennützige Tatkraft ihrer Mutter, doch sie wusste sehr wohl, dass weder sie selbst noch Lita, die Frau ihres Bruders, jemals diesem Beispiel folgen würden – sie genauso wenig wie Lita. Sie gehörten einer anderen Generation an, der verwirrten, desillusionierten Nachkriegsjugend, deren Energien sprunghafter und weniger zielgerichtet waren und die vor allem ein persönlicheres Betätigungsfeld dafür suchte. «Was kümmern mich Erdbeben in Bolivien!», hatte Lita einmal Nona zugeflüstert, als Mrs Manford die gescheiten alten Damen einberufen hatte, um sich mit einer seismischen Katastrophe am anderen Ende der Welt zu befassen, deren Wiederholung sich nach Meinung dieser Damen verhindern ließ, wenn umgehend eine Abordnung entsandt wurde, die den Bolivianern beibrachte, etwas zu tun, was diese nicht tun wollten, zum Beispiel einfach nicht an Erdbeben zu glauben.
Die jungen Leute empfanden jedenfalls kein vergleichbares Verlangen, anderer Leute Angelegenheiten zu ordnen. Warum sollte man den Bolivianern ihre Erdbeben nicht lassen, wenn sie unbedingt in Bolivien leben wollten? Und warum musste Pauline Manford deswegen in New York nachts wach liegen und, um die daraus resultierenden Falten wieder zu glätten, eine Reihe neuer Mahatma-Übungen lernen? «Wir empfinden vermutlich nur deshalb so, weil wir in Wirklichkeit viel zu bequem sind, uns darum zu kümmern», überlegte Nona in ihrer unverbesserlichen Aufrichtigkeit.
Sie wandte sich mit einem leichten Achselzucken von Miss Bruss ab. «Na gut», murmelte sie.
«Sie wissen ja, Liebchen», erlaubte sich Miss Bruss zu bemerken, «mit fortschreitender Saison wird es immer schlimmer, und die letzten beiden Februarwochen sind die schlimmsten, besonders wenn Ostern so früh liegt wie dieses Jahr. Ich begreife nicht, wie man ein dermaßen ungünstiges Datum für Ostern wählen konnte; vielleicht waren das diese Hoteliers in Florida. Heute Morgen hat Ihre arme Mutter noch nicht einmal Ihren Vater gesehen, bevor er in die Stadt fuhr, obwohl sie es für gänzlich verkehrt hält, ihn in die Kanzlei gehen zu lassen, ohne dass man Zeit für einen ruhigen kleinen Plausch gefunden ha t … Wenigstens ein fröhliches Wort, um ihn in die richtige Stimmung für den Tag zu versetze n … Ach, übrigens, meine Liebe, haben Sie zufällig gehört, ob er heute Abend zu Hause essen will? Denn er vergisst ja stets, wegen seiner Pläne Bescheid zu geben, und wenn er nichts gesagt hat, rufe ich lieber in der Kanzlei an, um ihn daran zu erinnern, dass heute Abend das große Dinner für die Marchesa stattfinde t …»
«Ich glaube nicht, dass Vater zu Hause isst», sagte das Mädchen gleichgültig.
«Nein? Nicht? Ach, du liebe Zeit!», gluckste Miss Bruss und hastete durchs Zimmer zu dem Telefon auf ihrem Schreibtisch.
Der Terminkalender war ihr aus der Hand gerutscht, und Nona Manford hob ihn auf und überflog ihn. Sie las:
«16.00: Besuch bei A
16.30: Musical, Torfried Lobb»
«‹16.00: Besuch bei A›.» Nona hatte schon befürchtet, dass heute der Tag war, an dem Mrs Manford ihren geschiedenen Ehemann Arthur
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