Damals warst du still
Vermisstendezernat. Alter, Größe, Haarfarbe, Augenfarbe, Klamotten – alles stimmt.«
»Wer hat die Anzeige aufgegeben? Seine Eltern?«
Fischer warf einen Blick auf den Packen DIN-A4-Blätter, den er in den Händen hielt. Er setzte sich auf die Ecke von Monas Schreibtisch. »Pass auf: Plessen Fabian, Plessen Roswitha. Dürften die Eltern sein. Ja, hier steht’s. Eltern von Samuel Plessen. Der Vermisste heißt Samuel Plessen, sechzehn Jahre, Haare blond, Augen braun, Größe eins zweiundachtzig. Wohnhaft bei seinen Eltern. Selbe Adresse jedenfalls. In Gersting.«
»Wo soll das denn sein?«
»Wenn es das Kaff ist, das ich meine...«
»Ja?«
»Ziemlich totes Nest. Viele Kühe. Bin mal durchgefahren.«
»Seit wann ist er abgängig?«
»Seit vorgestern früh. Kein Handy-Empfang. Freunde wurden von den Eltern befragt, wissen angeblich auch nicht, wo er ist.«
»Ist das häufiger passiert, dass er einfach so verschwunden ist?«
Fischer blätterte in den Seiten. »Seine Eltern sagen, nein. Kam oft erst zum Frühstück, aber wenn nicht, hat er sich immer gemeldet.«
»Also gut«, sagte Mona. »Wir fahren hin und checken das.«
»Du und ich?« Fischer machte ein saures Gesicht.
»Sicher. Wenn’s dir nicht passt, nehme ich Patrick. Liegt ganz bei dir.«
Fischer machte den Mund auf und überlegte es sich dann anders. Ihre stumm glimmende und manchmal geräuschvoll auflodernde Feindschaft hatte in Monas Augen beinahe schon etwas Lächerliches. Fischer hatte sich in diese Haltung verrannt und kam jetzt nicht mehr heraus. Vielleicht musste er einem Leid tun, vielleicht musste man sich vor ihm fürchten, vielleicht galt beides zu unterschiedlichen Zeitpunkten.
»Gibt’s ein Foto von der Leiche?«, fragte Mona, um das Schweigen zu beenden. »Also eins vom Gesicht, das sie nicht gleich umhaut?«
Fischer antwortete widerwillig. »Ja, wir haben da was, na ja, Präsentables. Das mit der rausgeschnittenen Zunge sieht man jedenfalls nicht.«
»Gut. Wenigstens das.«
»Was ist mit der Konferenz?«
»Es ist noch nicht mal elf, Hans. Bis eins sind wir wieder hier.«
5
Dienstag, 15.7., 11.45 Uhr
Gersting befand sich von der Stadt aus gesehen im Nordwesten, ein paar Kilometer von der A8 entfernt. Wegen der sengenden Hitze hatten Mona und Fischer ihre beiden Seitenfenster geöffnet. Der Sommerwind blies Mona die Haare ins Gesicht und rötete Fischers Augen. Fischer saß am Steuer und starrte mit seiner üblichen mürrischen Miene geradeaus, Mona sah aus dem Fenster und dachte an nichts und alles. Sie fuhren an reifen Maisfeldern vorbei, über denen die Luft zu flirren schien, an flachen, renaturierten Landschaften mit mächtigen Starkstrommasten, die sich bis zum diesigen Horizont fortsetzten. Eine wohlige Trägheit ergriff von Mona Besitz, und schließlich fielen ihr die Augen zu.
Als ihr Kopf auf die Brust fiel, schreckte sie hoch und warf Fischer einen Blick zu. Er schien nichts gemerkt zu haben. Langsam ordneten sich ihre Gedanken und fokussierten sich wieder auf den Fall.
Samuel Plessen. Hierzulande ein merkwürdiger Vorname. Von seinen Freunden wurde er wahrscheinlich Sam genannt. Mona stellte sich Sam lebend vor: ein Junge, wie es ihr Sohn Lukas auch bald sein könnte. Rotzig, charmant, unsicher, arrogant, schlecht in der Schule, aber ab und zu mit Geistesblitzen brillierend, kurz: die übliche fatale Mischung aus Komplexen und Größenwahn-Allüren. Eltern von Jugendlichen wie Samuel stießen schnell an die Grenzen ihrer Erziehungsbemühungen. Die Samuels dieser Welt waren zu groß, um sich noch etwas sagen zu lassen, und gleichzeitig zu unerfahren, um die Folgen ihrer Handlungen abschätzen zu können – ein teuflisch riskantes Alter. Lukas, dachte Mona, ist schon vierzehn, und ihre Stirn runzelte sich, ohne dass sie es merkte. Sehr bald würde auch er zu einer Clique gehören, von der sie nur hoffen konnte, das es nicht eine von der gefährlichen Sorte war.
Fischer verlangsamte die Fahrt und verließ die Autobahn. »Was erzählen wir denen eigentlich?«, fragte er, als sie vor einer Ampel standen. Es war beinahe windstill, aus der Ferne hörten sie das Rattern einer Mähmaschine.
»Du machst das doch nicht zum ersten Mal«, sagte Mona überrascht.
Als hätte er nichts gehört, fuhr Fischer fort: »Wir können doch erst mal so tun, als seien wir vom Vermisstendezernat. Vielleicht ist er’s ja gar nicht.«
»Möglich. Vielleicht ist er’s nicht. Und dann ist ja alles in Ordnung. Wir zeigen ihnen das
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