Damals warst du still
PROLOG
1980
Er war ein Junge mit kräftigen blonden Locken und braunen Augen, den anfangs alle niedlich fanden trotz seiner leichten Behinderung. Alle außer seiner Mutter, die schon vor der Katastrophe etwas ahnte, ohne es genauer wissen zu wollen. Besonders ihr zu Gefallen hielt er seine öffentliche Maskerade aufrecht, denn ihm war klar, dass er wenigstens eine einzige Verbündete brauchte.
Natürlich war seine Mutter alles andere als das. Natürlich verriet sie ihn nur deshalb nicht an den Rest der Welt, weil sie Angst hatte, selber in ein schlechtes Licht zu geraten. Genau aus diesem Grund würde sie weiter schweigen, solange er ihren ungeschriebenen Vertrag erfüllte, der aus einem einzigen Satz bestand.
Wehe, jemand merkt was .
Seine Mutter und sein Vater waren Ärzte und hatten häufig an den Wochenenden Dienst. Seine Schwester war viel älter als er und dachte nicht daran, in ihrer knappen Freizeit auf ihn aufzupassen. So war er an diesen magischen Tagen ganz allein mit sich in seiner alternativen Welt, die er wie ein Puzzle Stück für Stück zusammensetzte. Irgendwann würde sie so vollkommen sein wie ein dreidimensionales Gemälde, irgendwann würde sie leuchten – in düsteren, faszinierenden Farben. Irgendwann würde er sich darin bewegen können wie in einer realen Landschaft, nur Millionen Mal schneller. Er wusste (aber nicht woher), dass er dazu bestimmt war, etwas zu erschaffen, das es noch nicht gab. Manchmal fürchtete er sich vor seinem Auftrag, dessen Umfang noch im Dunkel der Zukunft lag, dann wieder überwältigte ihn ein Gefühl der Befriedigung, wenn er nach exakten Vorgaben geleistet hatte, was er sich vorgenommen hatte.
Er stand ganz am Anfang, er war ja erst acht. Begonnen hatte es mit dem Sezieren von Spinnen und Fliegen, deren Flügel und Beine er sorgfältig ausgerissen hatte, um die nun wehrlosen Körper akribisch zu untersuchen. Die Gefühle, die ihn dabei durchfluteten, waren machtvoll und unbeschreiblich, aber noch nicht voll befriedigend. Ein Weberknecht zum Beispiel bestand ohne seine langen, dürren Gliedmaßen nur aus Kopf und einem komplett charakterlosen Leib. Da beides so winzig war, konnte man mit bloßem Auge nicht genau sehen, wann und mit welchen eventuellen Verrenkungen die Spinne ihren Geist endgültig aufgab. Also wünschte sich der Junge eine Lupe, um den Prozess des Sterbens besser beobachten zu können. Seinen Eltern machte er weis, dass seine Lehrerin dieses Utensil für den Unterricht eingefordert hatte. Die glaubten ihm nicht und beschieden ihn mit der Information, dass es in der Republik zurzeit keine Vergrößerungsgläser zu kaufen gebe. Aber der Junge blieb hartnäckig, und schließlich bekam er von der Oma das, was er sich wünschte, wenn auch mit der Auflage, einen Bedanke-mich-Brief zu schreiben.
Es war sein achter Geburtstag, und die Lupe das Erste, was er auspackte. Seine Freude war groß und äußerte sich in einem kurzen Aufleuchten seiner seltsam kalten Augen. Die übrigen Geschenke sah er nicht einmal an. Seine Eltern wechselten verärgerte Blicke, als er die ersehnte Lupe – ein altes, schon leicht zerkratztes Modell, das laut dem Begleitschreiben der Oma dem Stiefopa gehört hatte – an sein Gesicht drückte. Das gebogene Glas kühlte seine heiße Stirn. Nach dem gemeinsamen Frühstück entwischte er in den Garten. Es war ein kalter, verregneter Junimorgen. Kein Tag, um draußen zu sein.
Seine Mutter spürte ihn auf, als er, vollkommen in seine Tätigkeit versunken, auf einer der steinernen Stufen hockte, die zu einem kleinen, mit Unkraut zugewucherten, nie benutzten Pavillon führten. Es nieselte, als sie langsam auf ihn zukam, mit diesem komischen Gefühl in der Magengrube, das sie in letzter Zeit häufiger erfasste, wenn sie über ihn nachdachte. Langsam trat sie näher, bis sie hinter ihm stand. Ihr Sohn bemerkte sie nicht. Auf seinem grauen Wollpullover glitzerten winzige Regentropfen wie Diamanten, seine Haare waren dunkel und strähnig vor Nässe. Sie beugte sich über seinen schmalen, gekrümmten Rücken. Dann zog sie scharf die Luft ein. Vor dem Jungen, auf der regennassen Stufe, lagen die sorgfältig längs tranchierten Hälften eines riesigen Hirschkäfers und daneben ihr kleines, scharfes Küchenmesser. Der Junge nahm die eine Hälfte des Käfers am Geweih (die Beinchen schienen sich noch schwach zu bewegen) und begutachtete sie eingehend durch die Lupe. Sein Atem ging stoßweise, als sei dieser Akt mit einer enormen
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