Damon Knights Collection 11
das ist schön.“ Sie schloß die Augen.
Nach einem langen Schweigen fuhr sie fort: „Die Sonne scheint heute so warm.“
„Ja“, sagte eine Stimme hinter Emma, „es wird Sommer sein, bevor wir es merken.“
Emma drehte sich um. Die Sprecherin war eine alte Frau in einem zerfetzten schwarzen Papierkleid, das offensichtlich aus dem Müll stammte. Spärliche Sträh nen, metallisch-silbern gefärbt, hingen in ein Gesicht, das mit seinen vorspringenden Knochen und der Schlotterhaut an eine Hexenmaske erinnerte.
Sie legte eine gichtige Hand auf Emmas Kopf. „Sie wird einmal eine hübsche junge Dame, meiner Seel’.“
Mrs. Rosetti schien ernsthaft darüber nachzudenken, bevor sie antwortete. „Möglich. Sehr gut möglich.“
Die Hexe kicherte. „Du hast nicht eine halbe Krone für eine alte Frau übrig, was?“
„Wie alt?“
„Alt genug, um das Leben zu kennen.“ Wieder ein Lachanfall, und die Hand verkrampfte sich in Emmas Haaren.
Völlig grundlos (denn in diesem Stadtteil gab es ge nug Sterbliche, die nicht weniger hinfällig waren als diese alte Frau) empfand Emma plötzlich Angst.
Mrs. Rosetti kramte eine Münze aus ihrer Tasche und reichte sie der Alten. Ohne ein Wort des Dankes schob sie sich an Emma vorbei zum Eingang des Drugstore.
Mrs. Rosetti legte ihr eine Hand auf die Schulter. „ Wie alt?“ beharrte sie.
Es war schwer zu erkennen, ob die Frau tatsächlich höhnisch grinste oder ob es Emma nur so vorkam. „Vierundfünfzig. Und wie alt bist du, mein Täubchen?“
Mrs. Rosetti schloß die Augen ganz fest. Emma nahm sie an der Hand und zerrte sie weiter.
Die Frau folgte ihnen den Bürgersteig entlang. „ Wie alt?“ kreischte sie. „ Wie alt?“
„Siebenunddreißig“, flüsterte Mrs. Rosetti.
„ Dich hatte ich nicht gemeint!“ Die Alte hob den Kopf, triumphierend vor Bosheit, dann machte sie kehrt und betrat den Laden.
Sie wanderten schweigend zurück zur Lant Street, auf einem Umweg, der durch wenig belebte Straßen führte. Mrs. Rosetti bemerkte die Tränen ihrer Tochter nicht.
Die Bitterkeit, die Emma empfand, ließ sich nicht mehr ertragen, und schließlich stieß sie hervor: „Wie konntest du nur! Wie konntest du das tun!“
Mrs. Rosetti betrachtete Emma verwirrt, beinahe ängstlich. „Was tun, Emma?“
„Wie konntest du ihr das Geld geben? Es hätte für ein Dutzend Osterglocken gereicht. Und du wirfst es einfach hinaus!“
Sie schlug Emma ins Gesicht.
„Ich hasse dich!“ schrie Emma ihr entgegen. „Und Walt haßt dich auch!“
Nachdem das Mädchen fortgelaufen war, nahm Mrs. Rosetti noch einmal zwanzig Gramm. Sie setzte sich, irgendwo, es war ihr egal, und ließ die Frühlingssonne in die große Leere ihres Fleisches eindringen, eine Schönheit, die sich bis in ihr Innerstes ergoß.
Gene Wolfe
Die Insel von Dr. Death und andere Geschichten
Der Winter macht sich am Wasser wie auf dem Land bemerkbar, auch wenn keine welken Blätter da sind. Die Wellen, gestern noch ein helles, hartes Blau unter einem blassen Himmel, sind heute grün, dunkel und kalt. Als Junge, den sie daheim nicht brauchen können, strolchst du stundenlang über den Strand und schmeckst den Winter, der über Nacht gekommen ist; Sand, der dir über die Schuhe weht, Gischt, die deine Kordhose an den Beinen durchnäßt. Du wendest dem Meer den Rücken zu und schreibst mit dem spitzen Ende eines Steckens, den du halb vergraben gefunden hast, Tackman Babcock in den feuchten Sand.
Dann gehst du heim, in dem Wissen, daß hinter dir der Atlantik dein Werk zerstört.
Daheim, das ist das große Haus auf Settlers Island, aber Settlers Island, obgleich so genannt, ist keine ech te Insel und wird deshalb auf Karten weder erwähnt noch richtig gezeichnet. Wenn man eine Entenmuschel mit einem Stein zertrümmert, sieht man an dem dünnen schlaffen Stiel einen formlosen Körper mit winzigen Lappen. Genauso ist Settlers Island.
Der dünne Stiel ist ein Landstreifen, an dem eine kleine Straße entlangführt. Aus purem Eigensinn übertreiben die Kartenzeichner meist seine Breite und lassen durch nichts erkennen, daß er bei Flut kaum über dem Wasser liegt. So scheint Settlers Island nur ein Ausläufer der Küste zu sein, der keinen eigenen Namen braucht – und da das Dorf mit seinen acht oder zehn Häusern keinen hat, sieht man auf der Karte nichts au ßer dem Spinnenfaden der Straße, die am Meer endet.
Das Dorf hat keinen Namen, aber unser Haus hat gleich zwei: einen im Familienkreis und
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