Das Sühneopfer: Historischer Kriminalroman (Schwester Fidelma ermittelt) (German Edition)
Kapitel 1
Eadulf stand sinnend am Fenster und schaute zum düstern Himmel über Cashel, der Burg Colgús, des Königs von Muman. Dessen Königreich war das größte der fünf Königreiche von Éireann; es nahm den Südwesten der Insel ein. Die Luft war frostig, schon den ganzen Tag über jagten graue, niedrig hängende Wolken über den Himmel, kräftige böige Winde trieben sie vor sich her.
»Das sieht nach Schnee aus«, bemerkte er und wandte sich seiner Partnerin zu. Sie saß vor einem Spiegel und setzte eben einen Silberreif auf ihr rotgoldenes Haar.
»Eher gibt es Regen«, meinte Fidelma, betrachtete weiter ihr Spiegelbild und schob den Reif zurecht. »Es müsste schon noch kälter werden, bevor Schnee fällt.«
»Mir reicht die Kälte«, murmelte Eadulf und ging hinüber zum Kamin, in dem Holzscheite prasselten. »Egal, was kommt. Von langer Dauer wird es nicht sein; bei dem Westwind ziehen die Wolken rasch.«
»Wir sind im Monat Cet Gaimrid , nicht umsonst heißt der ›Winteranfang‹«, erklärte Fidelma und erhob sich. »Was kann man da mehr erwarten als kaltes, ungemütliches Wetter?« Sie blickte noch einmal kritisch in den Spiegel, fragte: »Sag mal ehrlich, wie gefall ich dir?«, und drehte den Kopf hin und her.
»Ich finde, du siehst noch schöner aus als damals, da ich dich zum ersten Mal sah.«
Spöttisch verzog sie die Miene, als nähme sie ihn nicht ernst, insgeheim aber freute sie sich über seine Feststellung. Mit ihrer endgültigen Trennung von der frommen Schwesternschaft hatte sie das braune Habit aus grobem Wollstoffabgelegt. Nun trug sie die Kleidung, die ihr als einer Prinzessin vom Stamme der Eóghanacht zustand. Eadulf wusste, dass sie sich nur zu besonderen Anlässen mit einem kostbaren Gewand schmückte, und heute Abend war ein solcher Anlass.
Es klopfte leise an der Tür, und auf Fidelmas Aufforderung trat eine rundliche Frau mittleren Alters ein. Ihr graumeliertes Haar war etwas ungeordnet, und ihre wettergebräunte Haut verriet, dass sie sich mehr an der freien Luft bewegte als in den geschlossenen Räumen der Burg. Sie trug ein locker hängendes Kleid aus selbstgewebtem Wolltuch und hatte ein Kind von vielleicht drei Jahren an der Hand. Nicht nur sein leuchtend roter Schopf, auch seine Gesichtszüge glichen mehr denen von Fidelma als denen der Frau, die ihn behütete.
»Ich dachte, du möchtest deinem Kleinen noch gute Nacht sagen, Lady, bevor du zum Fest gehst«, erklärte Muirgen, die Kinderfrau.
Sofort hockte sich Fidelma hin und breitete die Arme aus. Der Junge lief auf sie zu und umarmte seine Mutter. Dann bog er sich zurück und zog die Brauen zusammen. » Muimme sagt, du gehst auf ein Fest. Du bist aber nicht wieder lange fort, oder? Wann kommst du zurück?«
Fidelma lachte herzlich und drückte den Jungen an sich. »Wir gehen nur hinunter in die Große Halle. Du weißt doch, wo die ist. Nach dem Essen dort kommen wir gleich zurück.«
Eadulf versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Während der ersten drei Jahre in Alchús Leben waren sie immer nur kurz mit dem Jungen zusammen gewesen. Oft genug waren sie kreuz und quer im Lande unterwegs, um im Auftrag von Fidelmas Bruder, dem König, oder der hohen Geistlichkeit einen geheimnisvollen Fall aufzuklären. Mehrfach hatte er gesehen, wie das Kind darunter litt, und mehrfach hatte essich ihm aufgedrängt, dass sie ihr Leben in ruhigere Bahnen lenken sollten. Der Junge war stets aufgewühlt und traurig, wenn sie fortritten. Unauslöschlich hatte sich ihm das Bild eingeprägt, wie der Junge mit verkrampftem Gesicht dastand, die Hand seiner Kinderfrau umklammerte und sich mühte, die Tränen zu unterdrücken, als sie beide auf dem Kopfsteinpflaster im Burghof zurückblieben und ihnen bei ihrem Aufbruch von Cashel nachschauten.
»Heute gehen wir überhaupt nicht fort, Alchú«, erklärte er ihm mit fester Stimme, nahm den Jungen in die Arme und schwenkte ihn fröhlich durch die Luft.
Der Junge jauchzte und umschlang den Hals seines Vaters, die blaugrünen Augen leuchteten. »Und morgen gehst du mit mir reiten, athair !«, verlangte er.
»Abgemacht, ich reite mit dir aus, du kleiner Jagdhund«, sagte Fidelma und spielte dabei auf die wörtliche Bedeutung seines Namens an.
»Wir reiten alle drei aus«, versicherte ihm Eadulf und setzte ihn nieder. Fidelma zwinkerte ihm zu, wusste sie doch, dass er nicht viel vom Reiten hielt und lieber zu Fuß unterwegs war. »Nun schwirr ab mit Muirgen, sei lieb und geh zu Bett. Wir
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