Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen
Mikroskop, eine antiquarische Schreibmaschine, eine Stange echter amerikanischer Marlboro, eine Flasche Kalyna-Wein, eine Flasche französischen Cognac. Von den Ausflügen in den Wald und in kleine Städte, von den Reisen nach Kiew, Sankt Petersburg, Litauen und ans Meer gar nicht zu reden. Auch nicht von den wenigen nächtlichen Gesprächen, in denen sich der weitere Verlauf des Lebens entschied. Selbst nach Vaters Tod war seine Schule nicht zu Ende. Allein schon dadurch, daß er alles geordnet hinterlassen hatte, dank den guten Erinnerungen vieler mir unbekannter Menschen, dank den Träumen.
Und trotzdem scheint mir, während ich all die wesentlichen Momente zusammentrage, daß sich hinter all dem etwas ganz Besonderes verbirgt, eine schwer zu formulierende Lektion. Sie besteht darin, daß Vater, dessen Leben (mit Ausnahme von Verhaftung, Lager, Verbannung und der Banden in Tschita) keinerlei Ähnlichkeit mit einem Abenteuerroman hatte, sich darauf verstand, es wie ein Schriftsteller zu behandeln, der es nicht nötig hat zu schreiben. Da er die Welt als Literatur erlebte, konnte er seine eigene, erstklassige Alltagsprosa schaffen: indem er beobachtete, sich Dinge einprägte, Akzente setzte, Episoden aneinanderreihte, Dialoge konstruierte, sich abgrenzte, mit Worten sparte, Sätze kombinierte, die Handlung abänderte und nach Charakteren suchte.
Es gelang ihm, nicht nur in seiner Prosa zu leben, sondern auch seine Zuschauer, Zuhörer und potentiellen Leser großzügig daran teilhaben zu lassen.
Es mag in der Erziehung auf wichtigere Dinge ankommen, aber wenn ich einen pädagogischen Wunsch habe, dann diesen: Ich würde gern die Fähigkeit besitzen, meinen Kindern ein bißchen von dem Lebensgefühl zu vermitteln, das Vater mir mitgegeben hat.
6
Während mein jüngerer Sohn versuchte, seinem selbstgebauten Heißluftballon den letzten Schliff zu geben, indem er das Gewicht der Drahtkonstruktion reduzierte und Brennmaterial zum Erhitzen der Luft sammelte, machte sich der ältere daran, die Bücher im alten Schrank abzustauben und zu ordnen. Ich selbst hatte diese Bücher zuletzt in der Hand gehabt, als ich etwa in seinem Alter war. Genug Zeit war vergangen, um die Bücher in den hinteren Reihen zu vergessen. Nun hatte ich die Möglichkeit, das kindliche Tun zu beobachten, zu begreifen und zu staunen.
Nach einer Weile kam eines meiner Lieblingsbücher zum Vorschein, ein Buch, das ich nicht lesen kann, man muß es aber auch gar nicht lesen. Ich habe nie ein vollkommeneres Buch gesehen. Natürlich gibt es Luxusausgaben. Doch diese deutsche Ausgabe der Märchen von Oscar Wilde beeindruckt durch etwas anderes. Sie ist eine stimmige Komposition makellos gefertigter Details, die das Buch als industrielles Produkt ausweisen. Die Papierqualität, das Format, die Art, wie die Bögen zugeschnitten und gebunden sind, die Qualität des Einbandes, die Farbtöne und Schriftarten, das Verhältnis zwischen gefülltem und freiem Raum, sogar das Gewicht, von den kongenialen Zeichnungen, den Initialen, den Bildern vor, hinter und in den Kapiteln ganz zu schweigen. Die Technik im Dienste des Menschen. Das ist es, was man stolz als Fortschritt bezeichnet hat.
Außerdem hat dieses Exemplar etwas, das es einzigartig macht: eine Geschichte und ein Rätsel. Vertrautheit, Menschlichkeit. Was jedem Ausdruck von Fortschritt anfangs fehlt. Was in unserem Teil Europas immer mit dem Fortschritt im Konflikt stand, denn der Fortschritt ließ dergleichen einfach nicht zu, da es ihm selbst nicht gelang, Vertrautheit herzustellen.
Was es einzigartig macht – und zweifelsohne von einer eigenen Geschichte und einem Rätsel zeugt –, ist das Wörtchen »für« mit dem Vor- und Nachnamen meines Großvaters, gezeichnet mit dem Vor- und Mädchennamen meiner Großmutter und darunter: Gmünd, Baracken, 16. Dezember 1916.
Gmünd (laut Enzyklopädie der ukrainischen Landeskunde): Stadt in Niederösterreich, an der Grenze zur Tschechoslowakei, 4000 Einwohner; 1914-1918 Lager für Flüchtlinge und Aussiedler aus Galizien, in dem es ukrainische Schulen (unter anderem ein Gymnasium), kulturelle und andere öffentliche Einrichtungen gab; widrige Lebensbedingungen waren der Grund für eine hohe Sterblichkeitsrate; zwischen 1914 und 1917 starben hier fast 14000 Ukrainer.
Großmutter war dort Krankenschwester gewesen. Großvater, der damals bereits zum Militär einberufen worden war – er hatte sein Ingenieursstudium abgebrochen, die Unteroffiziersschule
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