Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen
eine natürliche Schwermut auslöst, nicht weil ich den Winter hasse und auch nicht, weil es in diesem Herbst wichtigere Dinge gibt. Es ist bloß der kindliche Versuch, der Erinnerung an etwas zu entfliehen, was einem angst macht.
Diese unbestimmte Angst überkommt mich immer dann, wenn ein radikaler Wandel der Lebensumstände bevorsteht, was, wie mir scheint, unweigerlich zweimal pro Jahr der Fall ist. Diese Veränderung besteht im Wechsel vom offenen zum geschlossenen Raum, von Wärme zu Kälte, von Bänken zu Betten, Sandalen zu Stiefeln, von saftigem zu getrocknetem Obst, von Straßen zu Zimmern, von Salaten zu Kartoffeln mit Sauerkraut, von Weißwein zu etwas Stärkerem, von ganztägigen Märschen zu kurzen Fußwegen, von offenen Fenstern zum Heizen und umgekehrt.
Jedesmal braucht es eine gewisse Zeit, um sich zu erinnern, wie man nun leben soll. Etwas Ähnliches passiert, wenn wieder ein Kind geboren wird und es so scheint, als sei nichts von dem, was man sich beim vorigen angeeignet hatte, noch in Erinnerung.
Bei mir werden diese Gefühle durch den Balkon verstärkt. Ein halbes Jahr lang ist er für uns das, was man ein trautes Heim nennt, eine ökologische Nische, das eigene Territorium. Hier spielt sich zwischen Hausmauern und Weinranken unser Leben ab, hierher kommen alle, die uns besuchen. Das Leben auf dem Balkon bedeutet Nicht-Winter. Schon seit einigen Wochen geschieht auf diesem Balkon etwas, das mich zusätzlich mit Angst erfüllt. Sie rührt nicht daher, daß dieses Etwas – ein Bestandteil des Balkonlebens, das in Kürze abbrechen wird – vielleicht selbst brüchig geworden ist und bald enden könnte. Die Angst sitzt irgendwie tiefer.
Auf dem Balkon lernt M. Tschechisch. Sie lernt es, weil sie leicht Sprachen lernt, weil sie Tschechisch nicht spricht, weil ihr Tschechisch gefällt. Mir gefällt Tschechisch auch. Wenn ich auf den Balkon hinausgehe, erfreue ich mich an den langen und kurzen Vokalen, die eine unvergleichliche Sprachmelodie erzeugen, an der Anhäufung von vier Konsonanten in einem Wort mit vier Lauten. Mir gefällt das scheinbar kindliche Über-Betonungen-Stolpern im Tschechischen, wenn ich auf Fragen aus dem Lehrbuch antworte. Mir kommen die wunderbaren tschechischen Kinderbücher der frühen Siebziger in den Sinn, ihre einzigartige graphische Gestaltung, die damals mehr zählte als die absurden Gedichte wie »dedeček měl kolotoč a snědl jeho červotoč« 18 . Die Eindrücke aus den Bier- und Weinkellern der Prager Arbeiter steigen in mir auf, Orte, die kein Tourist je betreten wird. Ich versuche mir vorzustellen, wie der geliebte Hrabal diese Sätze ausgesprochen hätte … Eine einzige Freude. Kein Grund, Angst zu haben.
Aber immerhin bin ich zu einem Viertel Tscheche. Und ich weiß bis heute nicht, wieso ich kein Tschechisch spreche. Wieso ich nicht einmal versuche, es zu lernen. Ich weiß nicht, ob in diesem Zusammenhang mein absolutes Ukrainertum nicht genau auf jenes Zurückzieherische hinausläuft, das mich an den Ukrainern nervt. Ich verstehe nicht, wieso ich mich auf so kindische Weise gedrückt habe und noch immer drücke.
Daß mein Großvater nur ein Jahr lang mein Großvater war, daß mein Vater nach dem Tod seines Vaters geboren wurde, und daß mein Vater nie ein zärtliches Wort auf Tschechisch hörte, bedeutet ja nicht, daß er aufgehört hätte, Großvater und Vater zu sein. Schließlich sind der unleugbare Genotyp und der durchaus erkennbare Phänotyp geblieben. Schließlich wurde er nach seinem Tod sogar Teil der ukrainischen Geschichte, da der NKWD ausgerechnet ihn eine Zeitlang für den ukrainischen UntergrundkämpferRobert 19 hielt. Schließlich wird meine innere Nähe zu ihm mit den Jahren immer größer.
Trotz alledem unternehme ich, wenn ich auf den Balkon hinausgehe, der bald zum Winterbalkon wird, nicht die geringste Anstrengung, mir auch nur eine Lektion des Tschechischlehrbuches einzuprägen. Ich bemühe mich, nicht an den Wandel der Lebensumstände zu denken und empfinde eine unerklärliche Angst.
3
Als ich Soldat war, machte es mir Spaß, über verschiedene Dinge nachzudenken. Denken war schon deswegen gut, weil das Militär die Sphäre des Denkens nicht berührt, sondern ihm sogar mehr Platz verschafft, als im zivilen Leben dafür vorhanden ist. Außerdem gibt es nicht so viele »verschiedene Dinge«, über die man in seinem Soldatenleben, in der Welt des Soldaten nachdenken könnte, um nur oberflächlich, nicht tiefer über sie
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