dark canopy
ich: »Ist das nicht seltsam? Mir kommt es vor, als würde ich nach langer Zeit endlich klarsehen.«
Matthials Kopf sackte nach vorn. Er stieß die geballten Fäuste gegen seine Stirn, rieb sich mit den Handknöcheln über die Augen. »Ich glaube das nicht.« Glänzende Tropfen rannen ihm über die Hände. Rick winselte. »Ich kann nicht glauben, was ich alles getan habe, um dich zu retten. Und jetzt trittst du das alles mit Füßen.«
»Matthial, ich hatte nie vor, dich zu verle-«
»Zuerst Will!«
Ich sah ihn ebenso scharf an, wie er mich mit seinen Worten verletzte, aber er erwiderte meinen Blick nicht. »Ich habe nie von dir verlangt, das zu tun. Ich wünschte, du hättest es nicht getan.«
»Die Matches-Brüder. Liza. Meine Schwester. Der Clan«, zählte er monoton seine Verluste auf.
Ich atmete tief durch. »Ich habe nichts davon gewollt. Ich wollte doch bloß -«
»Mein Vater. Ich habe mit meinem Vater gebrochen, Joy. Für dich. Wegen dir. Nur, um dich zu retten. Bei der Sonne, was hätte ich sonst tun sollen? Was verlangst du bloß von mir?«
»Ich wollte nur Amber retten.« Der Satz fühlte sich nicht ganz richtig an, also fügte ich hinzu: »Und meine Seele, die auch. Ich wollte nicht schuld sein, ich wollte alles wiedergutmachen. Vielleicht war genau das mein Fehler.«
»Dann komm zurück, Joy. Wir können alles noch zum Guten wenden. Wir schaffen das. Ich liebe dich.«
Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich ihn nicht liebte. Es nie getan hatte.
Ich hatte es immer auf das unausgesprochene Darf-Nicht geschoben, weil ich ihm, dem künftigen Clanführer, nicht die Kinder schenken konnte, die der Clan brauchte. Aber nun merkte ich, dass ich mich irrte. Bei Neél war das Darf-Nicht von einem ganz anderem Kaliber gewesen, doch letztlich hatte es keine Rolle gespielt. Liebe scherte sich nicht darum, ob sie sein durfte. Sie war oder war nicht. Sie ließ sich weder erzwingen noch verleugnen.
»Tut mir leid, Matthial.« Ich wollte hinzufügen, dass ich mich verändert hatte, nicht mehr dieselbe war, aber eigentlich stimmte das nicht. Ich war mehr ich selbst als je zuvor. »Es tut mir furchtbar leid. Aber ich liebe dich nicht.«
Er brach vor meinen Augen zusammen. Innerlich, auf die stille Art, die man dem anderen nur ansieht, wenn man sich gut kennt. Auf die endgültige Art, die etwas für immer zerstört.
Die Blicke der anderen um uns herum sagten mir, dass ich ihn in den Arm nehmen sollte - vielleicht würde dann alles wieder gut werden. Stattdessen stand ich auf und machte einen schwerfälligen Schritt von ihm weg. »Lass uns genau überlegen, was wir nun tun, Matthial. Keine weiteren Fehler.«
Er lachte düster, den Blick auf den Boden gerichtet. »Das entscheidest nicht du. Nicht mehr.«
• • •
Wenig später humpelte ich nach unten. Allein. Und einsam.
Früher war ich das Messermädchen gewesen, danach eine Kriegerin, schließlich Soldat. Das alles war vorbei.
Von nun an war ich nur noch Joy. Und das war beängstigend wenig.
Matthial war nicht zu überzeugen gewesen. Nicht mit Vernunft, nicht mit Drohungen, nicht mit Betteln und Flehen und nicht mit Geschrei. Er beharrte auf dem Standpunkt, Neél für den Clan als Geisel und Druckmittel zu brauchen. Und ihm vorher so viele Informationen wie möglich zu entreißen, auch mit Gewalt. Wenn die letzten Monate mich nicht zerstört hatten - ihn hatten sie zerstört.
Diese Schuld trug ich mit mir, aber das machte es für Matthial nicht leichter.
Ich ging nicht nur nach unten. Ich ging. Endgültig. Sobald Neél ihnen nicht mehr ausgeliefert war, würde ich den Clan verlassen.
Wohin ich gehen wollte?
Ich wusste es nicht.
Vielleicht in die stille Siedlung, wo ich inmitten all der Lautlosigkeit womöglich jene flüsterleisen Gedanken hören würde, die mir von einer Lösung erzählten. Wenn es denn eine gab.
Vielleicht zum Fluss. Dorthin, wo die wilden Malven wuchsen, für alle Ewigkeit, solange sie niemand ausriss. Irgendwo dort hatte Graves eine Armbrust für mich versteckt.
Vielleicht ging ich auch zurück in die Stadt. Würde meine Hoffnung auf Neéls Rettung ausreichen, um Matthial, Josh, Kendra, Zac und die anderen zu verraten? Die Antwort auf diese Frage war ebenfalls flüsterleise und meine Umgebung zu laut, um sie zu verstehen.
Ich schlich auf nackten Füßen die metallene Wendeltreppe hinab in die Halle.
Er war allein. Ich hatte die anderen darum gebeten, uns allein zu lassen, und es war mir gewährt worden. Ein
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