Dark Room
andere Mal vorbetete, wusste sie, dass alles, was er gesagt hatte, wahr war.
O mein Gott, dachte sie, es passiert wieder.
* * *
Fast erwartete Fiona, in Jans Wohnung einen erstarrten, schweigenden Mann mit glasigem Blick vorzufinden, aber Jan fiel ihr noch an der Tür schluchzend um den Hals und stammelte unverständliche Satzfetzen in ihr Haar. Sie konnte ihn kaum beruhigen und schob ihn mit sanfter Gewalt ins Wohnzimmer, hielt ihn eng umschlungen und streichelte seinen Rücken. Er zuckte und schüttelte sich beim Weinen, als würde sein Körper krampfen, und Fiona murmelte immer wieder, dass alles gut werden würde, »alles, alles gut«, obwohl sie wusste, dass das Unsinn war und dass er sich nie wieder davon erholen würde.
Gleichzeitig überlegte sie, was er mit alldem zu tun hatte, wieso er noch bei Evis Haus gewesen war, so betrunken und zornig, wie er letzte Nacht herumgewütet hatte. Der Gedanke, er sei schuld an ihrem Tod, war absurd, aber wer konnte schon in den Kopf eines anderen Menschen hineinsehen? Wer wusste schon, wie sehr er sich in seinen Hass auf ihren Vater hineingesteigert hatte? Möglicherweise war es ein Unfall gewesen? Oder der Vater hatte sie getötet?
Er hatte sie geschlagen und drangsaliert. Die Gerüchte, dass es bei den »Engeln der letzten Tage« zu Übergriffen kam, dass er und Evi angeblich wie ein Paar zusammengelebt hatten und nicht wie Vater und Tochter, waren öfters durch die Presse gegangen. So sehr der Prediger auch gegen freie Sexualität geiferte, für ihn selbst schien das nicht zu gelten. Fiona fand den Gedanken entsetzlich, er könne sich an Evi vergriffen haben, und wie unerträglich musste er dann erst für Jan sein? Ihre Schulter war inzwischen nass von Tränen und Speichel.
Obwohl sie das alles nicht wissen wollte und sie dem Impuls, sich auf den Hacken umzudrehen, die Wohnung und den weinenden Jan zu verlassen und das alles zu vergessen, kaum widerstehen konnte, schob sie Jan von sich weg und drückte ihn auf einen Sessel. Sie ging in die Küche, um einen Tee zu kochen, wobei ihr bewusst war, dass sie das weniger für Jan tat als für sich. Sie wollte sich noch einige Minuten lang sammeln, bevor Jan ihr alles erzählte.
Fiona hatte Evi im Heim kennengelernt. Sie selbst war schon einige Jahre dort gewesen, unterbrochen von erfolglosen Versuchen, sie an eine Pflegefamilie zu vermitteln. Freundinnen hatte sie keine. Die anderen Kinder ließen sie in Ruhe oder schnitten sie. Fionas Schweigen war ihnen unheimlich. Als Evi dazukam, hatten sie zunächst keinen Kontakt, denn Evi war fünfzehn, zwei Jahre älter als Fiona und damit in einer anderen Gruppe. Wenn die beiden doch einmal zufällig beieinander standen, schien der Altersunterschied zwischen ihnen noch viel größer zu sein, denn Evi war schon fast eine junge Frau und Fiona ein schmales, durchsichtiges Kind, das mit eingezogenen Schultern schweigend durch den Garten joggte, Runde um Runde.
Bei einem dieser Ausdauerläufe bemerkte Fiona einige Gartenarbeiter, die hinter der Turnhalle herumlungerten. Sie sollten dort eigentlich die Hecken beschneiden, aber im Augenblick beschäftigte sie etwas anderes. Zwischen ihnen stand Evi, die panisch versuchte, von ihnen wegzukommen, aber immer wieder verstellte ihr einer der Männer den Weg. Einer war besonders zudringlich, fasste ihr ins Haar und machte sich über sie lustig, er lachte, dass sie ja schon richtige kleine Tittchen hätte und sicher längst Bescheid wüsste. Fiona sah sich um, ob eine der Betreuerinnen in der Nähe war, aber der große Garten lag wie ausgestorben da. Sie ging zu der Gruppe. Dem größten Mann reichte sie gerade bis zur Brust. Der Anführer zwinkerte ihr belustigt zu. »Neugierig, Täubchen? Flatter mal schnell ins Haus, wir haben hier zu tun. Na, husch, Süße.«
Und Fiona nahm ohne ein Wort Anlauf, sprang und trat dem überraschten Mann mit voller Wucht ihren Schnürstiefel in den Schritt. Er schrie vor Schmerz, fiel auf den Boden und krümmte sich. Blitzschnell trat Fiona noch einmal zu, diesmal gegen seinen Kiefer, der bedrohlich knackte. Die anderen wussten offensichtlich nicht, was sie von diesem Angriff zu halten hatten, und obwohl sie zu viert Fiona und Evi leicht hätten überwältigen können, kümmerten sie sich um ihren Anführer, der immer wieder stöhnte und sich den Kiefer rieb, und ließen die beiden Mädchen entwischen.
Später, so erzählte es die Sekretärin einer Putzfrau, hatte er im Büro der
Weitere Kostenlose Bücher