Dark Room
wollte er endlich mit seiner Freundin reden und sie möglichst überzeugen, mit ihm zu gehen und ihren Vater ein für alle Mal zu verlassen. Er schwankte durch das hohe Gras und betrat die Steinstufen, die zur überdachten Veranda hinaufführten. An einer Säule musste er sich kurz festhalten, ihm war schwindlig, und in seinen Ohren sauste ein hoher Ton wie ein Kreisel. Er schüttelte den Kopf, wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging zur Haustür, fest entschlossen, zu klingeln und mit Evi auch den Prediger aufzuwecken, wenn es sein musste. Da bemerkte er, dass hinter einem Fenster ein schwaches Licht brannte, und er konnte es sich im Nachhinein nicht genau erklären, aber er ließ seine Hand wieder sinken, stieg auf den steinernen Handlauf der Treppe und hangelte sich an der Hauswand entlang, bis er das Fensterbrett zu fassen bekam, sich vor die Scheibe schob und hineinschaute. Erst brauchte er eine Weile, um sich zu orientieren, dann erkannte er die Gestalt des Predigers.
Er saß auf der alten Ottomane vor einer Bücherwand. Das lange weiße Nachthemd war bis zum Bauch hochgeschoben, die knochigen Knie weit gespreizt, ein Fuß auf dem verblichenen Stoff des Sofas, einer auf dem Boden. Zwischen seinen Schenkeln stand die historische Bücherpresse, die Evi Jan bei einem seiner seltenen Besuchen im Haus gezeigt hatte. Zwei dicke Platten aus Eichenholz waren seitlich mit Stahlstangen verbunden. Die obere war über ein Gewinde am eisernen Rahmen befestigt, mit einem massiven Knebel konnte man die Platte damit absenken. Jemand hatte genau das getan, aber es lag kein Buch zwischen den schweren Holzblöcken, sondern offenbar Penis und Hoden des Predigers. Jan konnte das nicht genau erkennen, aber eine Unmenge dunkelroten Blutes bedeckte seine Beine, die Ottomane und den Boden. Im Schädel des Mannes klaffte eine tiefe Wunde, die Stirn sah aus, als wäre das Fleisch bis über die Schläfe abgeschält. Die Augen standen weit offen, und seine Zunge, die viel dunkler war, als es normal gewesen wäre, hing ihm aus dem Mundwinkel und gab seinem Gesicht einen lächerlichen, debilen Ausdruck. Um seinen Hals lief eine tiefe dunkelviolette Einkerbung und etwas, das wie eine Schnur oder eine Schlinge aussah.
Jan drehte den Kopf zur Seite und übergab sich in hohem Bogen ins Gras. Als nur noch Galle kam, zwang er sich, wieder hinzuschauen, obwohl seine Hände ihn kaum noch halten konnten, seine Arme zitterten und sich in seinem Kopf alles drehte.
Da erst sah er sie.
Evi.
Sie war ebenfalls mit einem langen weißen Nachthemd bekleidet und saß im Schreibtischstuhl ihres Vaters. Jan hätte sie fast nicht erkannt, aber dann fing er augenblicklich an zu brüllen. Keine Worte, keine Hilfeschreie, sondern nur tierische Laute, kehlig und rau, und er würgte wieder, und diesmal konnte er sich auch nicht länger am Sims festhalten, sondern stürzte den guten Meter ins Gras und blieb schreiend und gekrümmt vor Entsetzen dort liegen.
Evis Nachtgewand war zwar nicht blutig, aber auch sie war völlig entstellt. Jemand hatte ihr Haar, ihre wunderschönen dicken blonden Haare abrasiert und ihr den stoppeligen Kopf einer Gefängnisinsassin verpasst. Noch schlimmer aber sah ihr Gesicht aus. Jan begriff erst, was damit geschehen war, als er wimmernd im Gras lag. Ihre Lippen und ihre Augenlider waren mit Faden oder Draht zu Kreuzen vernäht. Je ein großes, schräges Kreuz über jedem Auge und viele kleine Kreuze über dem Mund.
Das Gesicht selbst war totenblass, und die Fratze, die der Täter auf ihre feinen Züge genäht hatte, ließ sie wie einen Zombie oder eine Höllenkarikatur wirken.
Als ihn jemand an der Schulter berührte, schlug Jan wild um sich und wurde schließlich niedergerungen. Er beruhigte sich erst, nachdem er die Handschellen auf seinem Rücken klicken gehört hatte und sich nicht mehr bewegen konnte. Polizisten standen um ihn herum, hielten ihn fest, redeten auf ihn ein. Irgendwann klappte er zusammen und heulte nur noch in lang gezogenen Schluchzern. Auf ihre Fragen antworten konnte er nicht, und er war sich auch nicht sicher, ob sie überhaupt welche gestellt hatten. Als sie ihn im Streifenwagen abtransportierten, kamen ihnen auf der Straße ein Leichenwagen und weitere Streifenwagen entgegen.
»Die haben mich erst mal in eine Ausnüchterungszelle geschoben, und später sollte ich dann erzählen, was gewesen war. Sie wussten von meinen Anrufen, ich hab außer dir natürlich Evi angerufen, und da klang ich auch
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