Dark Room
Männer mehr, und Alicia lachte wieder öfter. Lorina verpasste den Schwestern absoluten Hausarrest und behauptete in der Schule, Gemma habe Pfeiffer’sches Drüsenfieber. »Selbst schuld«, sagte sie zu ihr, »für so hässliche Mädchen muss man sich schämen. Aber das hast du ja gewollt. Dass die Leute mit dem Finger auf mich zeigen, weil ich die hässlichsten Töchter der ganzen Stadt habe.«
Gemma dachte, damit sei die Sache ausgestanden, aber dann zog Lorina den beiden eines Tages dicke, kratzige Wollmützen über. Sie drückte Alicia eine selbst genähte Stoffpuppe in die Hand, die ein besticktes Gesicht hatte, dicke schwarze Kreuze als Augen und dicke rote Kreuze als Mund und auf dem Kopf langes Haar bis zu den Füßen, rote Locken und braune Strähnen, und setzte die beiden ins Auto. Keines der Mädchen wollte die Puppe mit ihrem eigenen Haar haben, aber sie wagten nicht, sie abzulehnen. Lorina lud einen großen Koffer ein und fuhr mit ihnen aus der Stadt.
»Daran bist du schuld«, sagte sie zu Gemma, »deine dumme Schwester ist nur noch eine Belastung. Weißt du, was sie kostet? Sie hätte ein bisschen mitverdienen können, aber du musstest sie ja unbedingt kahl scheren und das Einzige kaputt machen, das zu gebrauchen war. Du kleine Giftkröte hast es einfach nicht ertragen, dass meine Freunde sie schön fanden und ihr Süßigkeiten schenkten. Schluss, aus, vorbei. Ich kann nicht mein Leben damit vergeuden, mich um sie zu kümmern, sie merkt das ja doch nicht. Ihr ist es egal, wo sie ist.«
Das Heim, in das sie Alicia brachte, lag auf einer Anhöhe und sah aus wie ein riesiger, dunkler Kaninchenbau. Dafür, dass Gemma dort Püppi kennengelernt hatte, würde sie zwar ewig dankbar sein, aber sie wünschte, es wäre unter weniger traurigen Umständen geschehen.
Über zwanzig Jahre später sah Gemma das bestickte Puppengesicht wieder. Es war noch weißer und viel größer. Die Kreuze auf Augen und Mund waren nicht so sorgfältig gestickt, und das zweifarbige Haar fehlte. Und Gemma wusste, sobald sie das Foto der toten Evi gesehen hatte, dass es eine Botschaft ihrer Mutter war. Eine Botschaft nur für ihre jüngste Tochter, der sie in den letzten Jahrzehnten ab und zu Briefe geschrieben, sie aber nie wieder getroffen hatte, nachdem Gemma verhindern konnte, dass sie die Pflegschaft für Fiona übernahm.
Die genähte Botschaft lautete: Du kommst besser zu mir, sonst werden noch weit schlimmere Dinge geschehen. Und Gemma hatte erstens dafür gesorgt, dass Alicia in dem Heim nichts passieren konnte und Püppis Vater auf sie aufpassen würde, und zweitens war sie der Aufforderung gefolgt und mit Fiona und Püppi zu ihrer Mutter gefahren.
Die lag so grau und runzlig, dass man sie kaum erkannte, in den Kissen und röchelte, als wäre jeder Atemzug ihr letzter. Gemma würde nun tun, was getan werden musste, um es ein für alle Mal zu beenden.
* * *
»Es hat ja funktioniert«, keuchte Lorina und hustete so stark, dass ihr ein rötlicher Speichelfaden vom Kinn tropfte. »Du bist hier.« Triumphierend sah sie Gemma an.
Fiona saß in einer Ecke des Sessels gekauert, hielt Gemmas Hand, bis die Knöchel weiß hervortraten, und schluchzte ab und zu leise. Ohne die Hand loszulassen, stand Fiona steif und umständlich auf. Ihr Gesicht war leichenblass, und das Sprechen fiel ihr schwer, sie musste jede Silbe einzeln hervorwürgen. »Du hast dafür gesorgt, dass meine Eltern vor meinen Augen abgeschlachtet wurden«, zischte sie, aber Lorina hielt ihr mit einer erstaunlich kraftvollen Bewegung die Handinnenfläche entgegen.
»Das war so nicht geplant«, sagte sie, »deine Eltern, ach Gott, das war eine Sache von Angebot und Nachfrage, sie hatten kaum Freunde und Kontakte, sie boten sich quasi als Opfer an. Aber mitgekriegt hast du es nur rein zufällig. Mein Freund Jabberwocky war sogar geschockt davon, es war ja sein allererster Gewinn, seine Premierenshow, stell dir das vor, er hatte richtig Lampenfieber. Er hat mir nachher erzählt, er sei mindestens so erschrocken gewesen wie du, als du da plötzlich mit deiner Plüschraupe in der Tür standst.«
Gemma zog Fiona eng an sich und hielt sie an der Hüfte fest. Sie konnte fühlen, wie sie von einem Fuß auf den anderen schwankte. »Was sollte denn mit dem Kind geschehen, wenn die Eltern weg sind? Was hast du dir gedacht?«
»Sie war ein süßes Mädchen«, Lorina lächelte, und für einen Moment erkannte Fiona die gütige alte Dame wieder, die sie im Heim
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