Dark Room
sie, eine mit wachen dunklen Augen und glattem braunem Haar und eines mit einfältigem Blick und offen stehendem Mund, dem die roten, dichten Locken bis zur Taille fielen.
Fiona fühlte sich, als würde sie aus einem tiefen Schlaf erwachen, sie sah auf und schaute Gemma mit großen Augen an. »Alicia und Sie! Die unzertrennlichen Schwestern. Alicia hatte dieses unglaubliche Haar, wie eine Prinzessin. Wir haben gespielt, als ich ganz klein war. Ich muss drei oder vier gewesen sein, und Sie waren viel älter. Alicia war irgendwie behindert oder zurückgeblieben, und Sie haben sie keine Sekunde aus den Augen gelassen. Lorina ist Ihre Mutter!«
Gemma umarmte sie, als wäre sie von einer langen Reise zurückgekommen, und hielt sie ganz fest. »Du hast keine Ahnung, was sie uns angetan hat. Ich war schon ausgezogen, als ich gehört habe, dass sie dich aus dem Heim holen und bei sich aufnehmen will. Das musste ich verhindern. Ich habe sie damals erpresst, damit sie dich im Heim lässt. Aber jetzt, wo sie sowieso bald stirbt, ist das wohl egal, denn sie hat dich deiner Bestimmung zugeführt. Du bist für sie reines Opfervieh. Sie hat dich versteigert. Nicht wahr, Mutter?«
Sie sah die alte Frau höhnisch an und nahm ihr die Fernbedienung weg, als die einen Hustenanfall bekam und das Bett verstellen wollte.
»Menschen versteigern, das ist das, was du am besten kannst.« Sie wandte sich wieder Fiona zu. »Alicia lebt seit einem Vierteljahrhundert in einem Heim im Harz. Als ich neulich abgetaucht war, habe ich sie besucht. Sie baut sehr ab, ich musste herausfinden, wie viel sie noch mitkriegt, und ihr begreiflich machen, was jetzt passieren wird.«
Die Krankenschwester versuchte, irgendetwas durch das Klebeband über ihrem Mund zu rufen, was zusammen mit dem Scheppern aus dem iPod nach einem schlecht eingestellten Radiosender klang.
Fiona sah sie streng an und wartete, bis sie sich beruhigt hatte. Lorina röchelte in ihren Kissen, aber niemand beachtete sie.
»Alicia wird noch weniger Besuch bekommen als ohnehin schon, nicht mehr von ihr«, sagte Gemma und zeigte abfällig auf Lorina, »und von mir wohl auch erst mal nicht.«
Sie machte eine kleine Pause, die sich anfühlte wie ein Eisblock, durch den ein Sprung geht. Dann sagte sie: »Ich werde unsere Mutter töten.«
16 FIONA
Alicia hatte rotes Haar wie eine Prinzessin aus einem Bilderbuch, und egal, was ihre Mutter behauptete, Gemma war kein bisschen neidisch darauf. Sie wusste, dass Alicia es schwer hatte, dass die anderen Kinder sie hänselten und nicht mitspielen ließen, dass sie nicht in den Kindergarten gehen durfte und später auch nicht in die richtige Schule. Die meiste Zeit saß Alicia bei ihrer Mutter in der Küche und malte mit groben Strichen Bilder aus. Bevor Gemma lesen lernte, erzählte sie Alicia Geschichten, und als sie es konnte, las sie Alicia aus ihren Schulbüchern vor. Ihre Mutter hielt davon wenig. »Die versteht kein Wort«, sagte sie zu Gemma, »die weiß nicht mal, ob du da bist.« Gemma fand das unmöglich, sie war sich sicher, dass Alicia ganz genau wusste, dass sie Schwestern waren und dass sie sich auf die Märchenstunden freute, obwohl sie oft an den falschen Stellen lachte oder mittendrin aufstand, weil sie am Fenster einen Vogel gesehen hatte. Ihre Mutter spielte nie mit Alicia. Und wenn andere Kinder sie mit Dreck bewarfen, schimpfte sie nicht mit ihnen, sondern zerrte Alicia in die Wohnung und setzte sie mit einem Malbuch an den Küchentisch. Gemma fand das gemein.
Deshalb wunderte sie sich auch so, als Lorina plötzlich anfing, sich um Alicia zu kümmern. Und es war kein Neid, eher Misstrauen, aber vielleicht auch die Hoffnung, dass nun alles besser werden würde für Alicia. Ihre Mutter war mit ihr beim Arzt gewesen, da war Alicia vielleicht elf oder zwölf, und Gemma konnte sich genau daran erinnern, dass es damit angefangen hatte, weil das so ein seltener Ausflug gewesen war. Normalerweise zeigte sich ihre Mutter möglichst nie mit ihrer Schwester und sperrte sie lieber mit ein paar Stofftieren im Badezimmer ein, wenn Gemma in der Schule war und nicht aufpassen konnte. Manchmal musste sie Alicia mitnehmen zum Einkaufen oder zu einer Besorgung, dann zerrte sie das langsame Mädchen mit den staunenden Augen und dem leicht offen stehenden Mund hinter sich her und gab ihr einen Klaps auf den Hinterkopf, wenn sie plötzlich loslachte. Gemma hatte es nie verstanden, aber Alicia lachte oft, sie hatte meistens gute Laune und
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