Dark Village - Das Böse vergisst nie
auf eine leere Linie am Ende des langen Dokuments. »Kyla Davis« ist darunter getippt.
»Was ist das?«, will ich wissen, und die Worte kommen aus meinem Mund, ehe ich denken kann, bevor ich spreche , wie Dr. Lysander es mir immer wieder eingeschärft hat.
Der Mann am Tisch hebt eine Augenbraue, während sich auf seinem Gesicht erst Überraschung und dann Verärgerung spiegelt. »Das Standardformular für die Entlassung aus der stationären Behandlung in den externen Vollzug. Unterzeichne.«
»Kann ich es erst lesen?«, frage ich, denn eine merkwürdige Sturheit in mir treibt mich an, obwohl ein anderer Teil von mir schlechte Idee flüstert.
Die Augen des Mannes werden schmaler, dann seufzt er. »Ja, das kannst du. Dann warten jetzt bitte alle, bis Miss Davis ihrem Rechtsanspruch nachgekommen ist.«
Ich blättere das Dokument durch, aber es hat über zehn Seiten, die so eng bedruckt sind, dass alles vor meinen Augen verschwimmt und mein Herz wieder rast.
Dad legt mir eine Hand auf die Schulter und ich drehe mich um. »Das ist schon in Ordnung, Kyla. Nur zu«, sagt er ruhig.
Auf ihn und Mum muss ich ab jetzt hören. Ich erinnere mich, dass das eine der Regeln ist, die mir eine Schwester letzte Woche geduldig zu erklären versucht hat. Und es ist Teil dessen, was im Vertrag steht.
Ich werde rot und unterzeichne: Kyla Davis. Nicht mehr nur Kyla – der Name, den eine Beamtin für mich ausgesucht hat, als ich hier vor neun Monaten zum ersten Mal die Augen aufschlug. Und jetzt habe ich außerdem einen richtigen Nachnamen, der zu mir gehört und mich zum Teil einer Familie macht. Das steht auch irgendwo im Vertrag.
»Lass mich das tragen«, sagt Dad und nimmt meine Tasche. Amy hakt sich wieder bei mir ein und wir gehen durch die letzte Tür.
Und einfach so lassen wir alles hinter uns, was ich kenne.
Mum und Dad mustern mich im Autospiegel, als wir aus der Tiefgarage unter dem Krankenhaus fahren. Es ist okay, denn ich mustere sie genauso.
Sie fragen sich wahrscheinlich, wie sie zu zwei Töchtern gekommen sind, die so überhaupt nicht zusammenpassen. Und das hat noch nicht mal mit der Hautfarbe zu tun, die man ja sowieso nicht bemerken darf.
Amy sitzt auf der Rückbank neben mir: groß, attraktiv und drei Jahre älter als ich. Ich bin klein und dünn und habe feine blonde Haare – ihre sind dunkel, dick und schwer. Sie ist eine Granate , wie einer der Pfleger immer eine Schwester genannt hat, auf die er stand. Und ich bin …
Mein Gehirn sucht nach einem Wort für das Gegenteil von Amy, aber es kommt nichts. Vielleicht ist das aber auch schon die Antwort: Ich bin ein leeres, langweiliges Blatt Papier.
Amy trägt ein fließendes, rot gemustertes Kleid mit langen Ärmeln, aber sie hat einen davon hochgeschoben, sodass ich das Levo an ihrem Handgelenk sehen kann. Meine Augen weiten sich vor Überraschung: Sie wurde auch geslated. Ihr Levo ist ein älteres Modell, groß und dick im Vergleich zu meinem, das nur aus einer schmalen Goldkette mit einem kleinen Display besteht und aussehen soll wie eine Armbanduhr oder ein Armkettchen. Aber darauf fällt natürlich niemand rein.
»Ich freu mich so, dass ich jetzt eine Schwester habe«, sagt Amy, und es muss stimmen, denn auf ihrer Digitalanzeige steht 6,3.
Wir kommen zur Pforte – hier halten mehrere uniformierte Männer Wache. Einer tritt ans Auto, die anderen sehen hinter der Glasscheibe zu. Dad drückt auf ein paar Knöpfe und alle Autofenster und der Kofferraum gehen auf.
Mum, Dad und Amy ziehen ihre Ärmel hoch und halten ihre Hände aus den Fenstern, also tue ich das Gleiche. Der Wächter schaut auf Mums und Dads leere Handgelenke und nickt, geht dann zu Amy und hält ein Ding an ihr Levo, bis es piept. Dann macht er dasselbe mit meinem Levo. Er wirft einen Blick in den Kofferraum und schließt ihn wieder.
Eine Schranke geht auf und wir dürfen passieren.
»Kyla, was möchtest du heute machen?«, fragt Mum.
Mum ist rund und spitz, nein, das ist kein Scherz. Ihr Körper ist rund und weich, aber ihr Blick und ihre Worte sind spitz.
Der Wagen fährt auf die Straße und ich drehe mich um. Ich kenne das Krankenhaus gut, aber nur von innen. Das Gebäude ist riesig – ich sehe endlose Reihen von vergitterten Fenstern. Hohe Zäune und Türme mit Wachen, die auf und ab patrouillieren, markieren die Grenzen des Klinikgeländes. Und …
»Kyla, ich habe dich etwas gefragt!«
Ich schrecke hoch. »Ich weiß es nicht«, sage ich vorsichtig.
Dad lacht auf.
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