Darling Jim
ab hier hatte er wieder eimnal alles ruiniert.
Er wollte nämlich einen Wolf zeichnen, der plötzlich mit gesenktem Kopf und funkelnden Augen, zum Angriff bereit, vor ihr auftauchte. Das Tier hätte das ganze Bild umgedeutet und seine gesamte rotznäsige vorpubertäre Leserschaft in die geheimnisvolle Welt eines Fantasyabenteuers geschleudert, in dem sich gefräßige Kreaturen an hilflosen jungen Mädchen weideten, und das Ganze für mindestens zehn Euro pro Ausgabe. Und jetzt? Das Einzige, was die holde Jungfrau tun musste, um sich zu retten, war, dem fetten Hund ein Snickers aus ihrer Handtasche hinzuwerfen. Es war zum Verzweifeln.
Niall zerknüllte das Blatt zu einem Ball und warf ihn dahin, wo er auch die vier anderen missglückten Versuche entsorgt hatte: in den riesigen Metallkäfig, in den die Sortierer alle »toten Briefe« warfen, bei denen die Absender die Frankierung vergessen oder die Empfängeradresse unvollständig eingetragen hatten. Diese Postsendungen wurden eine Woche gelagert und, falls die Absender nicht vorbeikamen, die Strafe bezahlten oder die Briefe wieder mitnahmen, in den Müll geworfen.
Der zerknüllte Wolf ergab sich nicht kampflos geschlagen. Das Papierknäuel prallte auf ein paar lose geschichtete Umschläge, rutschte auf der dadurch ausgelösten weißen Papierlawine nach unten und landete schließlich auf einem unförmigen Päckchen, das dadurch ins Schwanken geriet und mit einem lauten, dumpfen Knall an den Metallstreben des Käfigs landete. In diesem Paket befanden sich definitiv keine selbst gestrickten Handschuhe für Omi, sondern etwas Eckiges, das Gewicht hatte.
Zum ersten Mal an diesem Abend wurde Niall aus seinem Selbstmitleid gerissen, und er drehte den Kopf in Richtung des Geräusches.
Der Käfig für die toten Briefe, der heute für Nialls früher so begeisterungsfähige, immer noch jugendliche Phantasie aussah wie der schwach erleuchtete Wachturm der Burg der holden Jungfrau, befand sich weniger als einen Meter vor dem verratzten Schreibtisch, den sein Vorgesetzter vor kurzem für ihn zwischen den Boiler und zwei defekte Briefmarkenautomaten gequetscht hatte. Mr. Raichoudhury hatte mit so feierlicher Miene auf das angeschlagene Holzmöbel gedeutet, als könne er mit seiner Geste alle Kaffee- und Brandflecken auf seiner Tischplatte verschwinden lassen.
Niall zögerte einen Augenblick, dann stand er auf. Vor zwei Jahren hatte er - im stillen Höllenqualen leidend - die Kunsthochschule geschmissen und sich widerwillig die trübsinnige Uniform eines niederen Angestellten der irischen Post übergestreift, um die Miete bezahlen zu können. Seitdem hatte er einen gewaltigen Widerwillen davor entwickelt, donnerstags die Käfigluke zu öffnen, in das Gittergefängnis zu steigen und seine unersättlichen papiernen Eingeweide zu leeren. Aber heute Abend war irgendetwas anders als sonst. Ein eisiger, winterkalter Luftzug trieb lose Blätter über den Boden. Stash Brown hätte an einem solchen Abend den Abzug seines Lasergewehrs umfasst und sich den außerirdischen Mutanten gestellt, die im Käfig auf ihn lauerten. Und Pickles, der Killeraffe, hätte die Zähne gebleckt und schrill gekreischt.
Niall ging zu dem Käfig, öffnete die Luke und kletterte ins Innere.
Am Fuß der provisorischen Papierrutsche lag ein eingerissener, fleckiger, dunkelbrauner Umschlag. Niall hob ihn auf und wollte ihn eigentlich wieder auf den Papierhaufen werfen. Aber dann drehte er ihn doch um und warf einen Blick auf den Absender. Die Adresse wirkte hingekritzelt, als habe es der Schreiber sehr eilig gehabt. Die Buchstaben waren krakelig und verschmiert, aber er konnte dennoch die Worte erkennen:
Von: Fiona Walsh, One Strand Street, Malahide.
Der Name des ermordeten Mädchens, das zusammen mit seiner kleinen Schwester Roisin gestorben war? Unmöglich. Das war doch sicherlich ein schlechter Scherz. Oder? Niall stockte der Atem. Sein Verstand wusste nicht genau, was jetzt zu tun war. Das Ding einfach wegwerfen und den schlechten Scherz vergessen? Vor Angst zur Salzsäule erstarren, falls es doch kein Scherz sein sollte? Als Niall merkte, dass er das unförmige Päckchen unwillkürlich fest an die Brust gedrückt hatte, entschied er sich für Option Nummer drei. Niall sagte sich, er könne unmöglich beurteilen, was er von der Sache zu halten habe. Dadurch steigerte er natürlich seine Furcht vor dem, was das Päckchen enthalten mochte. Er kletterte schleunigst aus dem Käfig, der ihn inzwischen an den
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