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Darling Jim

Darling Jim

Titel: Darling Jim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mork
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angelegt hatten, grandios gescheitert waren. Die Ansammlung von Betontürmen, aus denen »Mun« bestand, war ein Getto, das in etwa so viel Charme versprühte wie eine Plattenbausiedlung der ehemaligen DDR.
    Insgesamt sieben Türme hatten Dublins Norden seit Jahrzehnten in einen stalinistischen Albtraum verwandelt. Jeder dieser Türme war nach einem Märtyrer des Osteraufstandes von 1916 benannt, als ein kleines Grüppchen irischer Freiheitskämpfer sich beim Versuch, einen irischen Staat zu gründen, gegen die britische Armee gestellt hatte. Eine Bürgerinitiative setzte sich seit einiger Zeit dafür ein, das Stadtbild zu verschönern, und die scheußlichen Betonklötze wurden nach und nach abgerissen. Aber der Plunkett-Tower, das einzeln stehende schwarze Legostück, in dem Niall wohnte, bot ihm nach wie vor jeden Abend auf dem Nachhauseweg den gleichen deprimierenden Anblick. Im »Mun« verwandelte sich alle gute Laune sofort in Trübsal, und daran würden auch die Pläne für grüne Parkanlagen nichts ändern. Was glauben diese Deppen eigentlich, dachte Niall. Das Viertel würde niemals junge Cappuccino-Trinker anlocken. Hier wohnten nur echte Verlierer, Gettoratten mit angeschliffenen Münzen und wertlosen Lottoscheinen in den Taschen. Für sie würde »Mun« immer der Drecksort bleiben, an dem sie gestrandet waren, scheiß auf die Sanierung.
    Aber Oscar war das völlig egal. Hauptsache, es gab genug zu essen. Der orangefarbene Kater blinzelte gelangweilt, als er die Tür hörte, kletterte träge auf einen Stuhl und gewährte Niall einen unverstellten Blick auf den Schaden, den er angerichtet hatte: ein Telefonkabel verdreht, zwei Marsriegel aufgerissen und den Inhalt im Zimmer verteilt und mindestens zehn aus der Küche geklaute Teebeutel, nach allen Regeln der Kunst zerfetzt wie die mumifizierten Mäuse, von denen der Kater träumte, wenn er besonders friedlich wirkte.
    »Ich liebe dich auch, du orangefarbene Bestie«, seufzte Niall und begann aufzuräumen. Er beeilte sich und setzte sich dann an seinen Arbeitstisch, um den Oscar einen großen Bogen machte, weil er den Geruch von Tinte und Lack auf den Tod nicht ausstehen konnte. Der Kater schnurrte und drehte den Kopf in die Richtung, aus der bald das erste Licht des Morgens über dem Zementozean auftauchen und durch die immer dreckigen Fenster im zwölften Stock kriechen würde.
    Niall holte das schwarze Buch aus der Tasche und legte es unter seine hellste Architektenlampe. Jetzt konnte er erkennen, dass jemand die Initialen »F. W.« mit einem Kugelschreiber in den Einband geritzt hatte. Fiona Walsh? Vielleicht war das Buch wirklich authentisch. Aber erst mal abwarten. Er sah Oscar Hilfe suchend an. Vielleicht würde er ihm das Startzeichen geben. Aber der überzuckerte Kater sah ihn nur mit der Katzen eigenen Herzlosigkeit an, die zu sagen schien: Ob es dich nun umbringt oder nicht, ich bin heute Abend jedenfalls satt geworden. Also mach schon, dämlicher Idiot. Mir ist das vollkommen egal.
    Einen Moment lang überlegte Niall, ob er die Gardai anrufen sollte. Das Buch in seinen Händen war wichtiges Beweismaterial, mit dessen Hilfe der Fall gelöst werden konnte. Seine Ohren brannten. NIALL CLEARY, UNSER HELD, lautete die Schlagzeile in seinem Kopf. Seine Hand wanderte in Richtung Telefon, änderte dann aber wie von selbst die Richtung und legte sich wieder auf das raue schwarze Leinen.
    Dann blätterte er endlich die erste Seite um und vergaß die Polizei restlos.
    Obwohl er es noch nicht wusste, veränderte dieser Augenblick sein bisheriges Leben - oder zumindest die monotone Existenz, die er bisher geführt hatte - mit einem Schlag für immer.
    Nialls Herzschlag beschleunigte sich, als er die ersten Worte in der kleinen, krakeligen Schrift las, die Seite um Seite füllten. Auf dem dünnen Bibelpapier sah er Blutflecken und Tränenspuren. Oder waren es Schweißflecken? Er verglich die Schrift mit der auf dem Umschlag. Sie stimmten überein. Dieselben krakeligen Striche, dieselben schmalen Vokale. In höchster Eile geschrieben. Dieses Buch war nicht in gemütlicher Atmosphäre bei einem Tässchen Tee und ein paar Keksen entstanden. Überall waren Nagelspuren ins Papier eingegraben, schmutzige Halbmonde, aus denen Verzweiflung schrie.
    Über die winzige Wohnung senkte sich eine Dunkelheit, die so undurchdringlich war wie eine schwarze Mitternacht. Niall knipste alle Lampen an, die er besaß, und wickelte sich in seine Daunenjacke, um der Kälte

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