Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition)
nicht aus. Genau da beginnt die verrückte Seite der Zunge, die Zungenwurzel.
Hier ist eine andersartige Landschaft voller rosa Kuppeln. Wer keinen ausgeprägten Brechreflex hat, kann sich mit dem Finger ganz vorsichtig auf der Zunge nach hinten tasten. Sobald man am letzten Stück ankommt, merkt man, dass es von unten munter rund entgegenhubbelt. Die Aufgabe der Zungenkuppeln ist, alles, was wir schlucken, zu überprüfen. Dafür schnappen sich die Kuppeln kleinste Partikel aus Essen, Trinken oder der Atemluft und ziehen sie ins Kuppelinnere. Hier wartet eine Armee aus Immunzellen, um mit Fremdstoffen aus der Außenwelt trainiert zu werden. Apfelstückchen sollen sie in Ruhe lassen, bei Halsweherregern müssen sie sofort zuschnappen. Wer bei der Finger-Erkundungstour also wen erkundet, ist unklar, denn dieser Bereich gehört zu dem neugierigsten Gewebe unseres Körpers: dem Immungewebe.
Das Immungewebe hat ein paar solcher Neugier-Hot-Spots – genaugenommen liegt um den ganzen Rachen ein Ring aus Immungewebe. Diese Zone nennt man auch den Waldeyer Rachenring: unten die Zungenkuppeln, rechts und links unsere Mandeln, und oben gibt es noch was beim Rachendach (in Nasen- und Ohrennähe – wir nennen sie bei Kindern oft einfach »Polypen«, wenn sie zu groß werden). Wer jetzt denkt, dass er keine Mandeln mehr hat – falsch gedacht. Alle Teile des Waldeyer Rachenrings zählen nämlich als Mandeln. Zungenkuppeln, Rachendächer und auch unsere altbekannten Mandeln tun alle dasselbe: Sie tasten neugierig Fremdes ab und trainieren Immunzellen, sich zu verteidigen.
Abb.: Das Immungewebe am Zungengrund, auch tonsilla lingualis genannt
Die Mandeln, die öfter mal entfernt werden, machen das nur einfach nicht immer ganz clever: Sie bilden keine Kuppeln, sondern tiefe Furchen (zur Oberflächenvergrößerung). Darin bleibt dann manchmal zu viel Fremdes hängen und kommt nur schwer wieder raus, wodurch sich das Gewebe hier öfter entzündet. Das ist sozusagen ein Nebeneffekt von überneugierigen Mandeln. Wer also ausschließen kann, dass schlechter Atem von der Zunge oder den Zähnen kommt, der kann mal bei diesen Mandeln nachsehen – wenn er noch welche hat.
Manchmal verstecken sich hier kleine weiße Steinchen, die furchtbar riechen! Leute wissen oft nichts davon und kämpfen wochenlang gegen einen üblen Mundgeruch oder einen merkwürdigen Geschmack. Alles Zähneputzen, Gurgeln oder Zungenputzen hilft dann praktisch nichts. Irgendwann kommen die Steine von alleine raus, und alles ist wieder gut – so lange muss man aber nicht warten. Man kann diese Steinchen mit etwas Übung herausdrücken, und der Mundgeruch verschwindet von einem Moment auf den anderen.
Der beste Test, ob unangenehmer Geruch überhaupt von hier kommt, ist: mit dem Finger oder Q-Tips über die Mandeln fahren. Wenn es schlecht riecht, dann kann man auf Steinchensuche gehen. HNO -Ärzte entfernen solche Steine auch – das ist komfortabler und sicherer. Wer Freude an grenzwertig ekligen YouTube-Videos hat, kann sich auch dort verschiedene Rumdrücktechniken angucken und dabei einige Extremexemplare solcher Steine ansehen. Das ist allerdings nichts für schwache Nerven.
Es gibt auch noch andere Hausmittel gegen Mandelsteine.Einige Menschen gurgeln mehrmals täglich Salzwasser, andere schwören auf frisches rohes Sauerkraut aus dem Reformhaus – wieder andere behaupten, ein Verzicht auf Milchprodukte führe zu völliger Steinlosigkeit. Wissenschaftlich bewiesen ist keiner dieser Vorschläge. Besser untersucht ist die Frage, ab wann man Mandeln rausoperieren kann. Die Antwort lautet: am besten, wenn man älter als sieben ist.
Ab diesem Alter haben wir wohl alles Wichtige gesehen. Unsere Immunzellen zumindest: auf die völlig fremde Welt kommen, von Mama abgeknutscht werden, mal im Garten oder Wald sein, ein Tier anfassen, viele Erkältungen hintereinander haben, einen Haufen fremder Leute in der Schule kennenlernen. Das war’s auch schon. Ab jetzt hat unser Immunsystem sozusagen fertig studiert und kann normal arbeiten gehen für den Rest unseres Lebens.
Vor dem siebten Lebensjahr sind die Mandeln noch wichtige Ausbildungsstätten. Die Bildung unseres Immunsystems ist nicht nur im Kampf gegen Erkältungen wichtig. Sie spielt auch eine Rolle, wenn es um unsere Herzgesundheit oder unser Gewicht geht. Wer seine Mandeln vor dem siebten Lebensjahr entfernt bekommt, hat zum Beispiel ein höheres Risiko, übergewichtig zu werden. Warum das so ist, wissen
Weitere Kostenlose Bücher