Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition)
oder auch der Verzicht auf größere Mengen Alkohol. Alkohol kann gasproduzierende Bakterien auf das bis zu Tausendfache erhöhen. Einige Bakterien benutzen Alkohol nämlich als Nahrung (was man beispielsweise bei vergorenen Früchten schmeckt). Wenn im Darmtrakt fleißige Gasproduzenten sitzen, wird die nächtliche Disko zum morgendlichen Trompetenkonzert. Von wegen »Alkohol desinfiziert«?
Und nun zu seiner merkwürdigen Form. Die eine Seite des Magens ist viel länger als die andere, so dass sich das komplette Organ krumm biegen muss. Dadurch kommt es im Inneren zu großen Falten. Man könnte auch sagen: Der Magen ist der Quasimodo der Verdauungsorgane. Doch sein unförmiges Äußeres hat einen tieferen Sinn. Wenn wir einen Schluck Wasser trinken, kann die Flüssigkeit aus der Speiseröhre direkt an der rechten, kurzen Seite des Magens entlangfließen und am Tor zum Dünndarm landen. Essen dagegen plumpst auf die große Seite des Magens. So trennt unser Verdauungsbeutelchen überausgefuchst, was es kleinkneten muss und was es schneller weiterleiten darf. Unser Magen ist nicht einfach schief , er hat einfach nur zwei Expertenseiten. Die eine kommt besser mit Flüssigem klar, die andere mit Festem. Zwei Magen in einem sozusagen.
Der umherschlängelnde Dünndarm
In unserem Bauch liegt ein drei bis sechs Meter langer Dünndarm, ganz locker, Schlinge für Schlinge. Wenn wir Trampolin springen, hüpft er einfach mit. Wenn wir in einem startenden Flugzeug sitzen, wird auch er in Richtung Sitzlehne gepresst. Wenn wir tanzen, schwubbelt er munter umher, und wenn wir unser Gesicht vor Bauchschmerzen verziehen, spannt er seine Muskeln in ziemlich ähnlicher Form an.
Nur wenige Menschen haben schon mal ihren eigenen Dünndarm gesehen. Auch bei einer Darmspiegelung schaut sich der Arzt meistens nur den Dickdarm an. Wer die Chance hatte, sich mittels einer kleinen schluckbaren Kamera auf den Weg durch den Dünndarm zu machen, ist meist überrascht. Statt auf einen düsteren Schlauch trifft man auf dieses andersartige Wesen: wie Samt glänzend, nass und rosa und irgendwie zart. Kaum jemand weiß, dass nur der allerletzte Meter Dickdarm etwas mit Kot zu tun hat – die Meter davor sind überraschend sauber (übrigens auch weitgehend geruchlos) und beschäftigen sich treu und appetitlich mit allem, was wir ihnen entgegenschlucken.
Auf den ersten Blick mag der Dünndarm ein bisschen konzeptloser wirken als die anderen Organe. Unser Herz hat vier Kammern, unsere Leber ihre Leberlappen, Venen haben Klappen, und das Gehirn hat Areale – der Dünndarm dagegen schlängelt sich nur orientierungslos umher. Seine wahre Gestalt wird erst unter dem Mikroskop sichtbar. Wir haben es hier mit einem Wesen zu tun, das den Begriff »Liebe zum Detail« kaum besser verkörpern könnte.
Unser Darm will uns so viel Fläche bieten wie möglich. Dafür faltet er gerne. Da sind zuallererst die sichtbaren Falten – ohne sie bräuchten wir einen bis zu 18 Meter langen Dünndarm, um genug Verdauungsfläche zu haben. Ein Hoch auf die Falten! Ein Perfektionist wie der Dünndarm hört allerdings hier noch nicht auf. Auf einem einzigen Quadratmillimeter Darmhaut ragen dreißig winzige Zotten in den Nahrungsbrei. Diese Zotten sind so klein, dass wir sie fast noch sehen können – aber eben nur fast. Der Grenzbereich zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem wird von unseren Augen so hoch aufgelöst, dass wir gerade noch eine samtartige Struktur erkennen. Die kleinen Zotten sehen unter dem Mikroskop wie große Wellen aus lauter Zellen aus. (Samt sieht ganz ähnlich aus.) Unter einem besseren Mikroskop erkennt man, dass jede einzelne dieser Zellen wieder mit lauter zotteligen Ausstülpungen besetzt ist. Zotten auf Zotten sozusagen. Diese Zotten wiederum haben einen samtartigen Besatz, hervorgerufen durch unzählige Gebilde aus Zucker, die in der Form Hirschgeweihen ähneln – das ist die sogenannte Glykokalix. Würde man alles glattstreichen – Falten, Zotten und Zotten auf Zotten – , wäre unser Darm etwa sieben Kilometer lang.
Abb.: Darmzotten, Mikrovilli und die Glykokalix
Warum muss er überhaupt so riesig sein? Insgesamt verdauen wir also auf einem Gebiet, das hundertmal größer ist als unsere Haut. Das scheint ziemlich unverhältnismäßig für eine kleine Portion Pommes oder einen einzelnen Apfel. Aber genau darum geht es in unserem Bauch: Wir vergrößern uns selbst und verkleinern alles Fremde, bis es so winzig ist, dass wir es aufnehmen
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