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Darwin und die Götter der Scheibenwelt

Darwin und die Götter der Scheibenwelt

Titel: Darwin und die Götter der Scheibenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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zurückkehrten und in Manchester Konservenfabriken gründeten … Handwerker, die auf der Suche nach guter Arbeit in die Städte kamen. Wir könnten die Liste zehnmal so lang machen, obwohl wir in den meisten Fällen nicht sicher wären, ob echte Kausalbeziehungen vorliegen. Und selbst bei zehnmal so viel ›Ursachen‹ müssten wir immer noch sagen: ›alles oben Erwähnte‹.
    Sind solche Faktoren eine Ursache historischer Unterschiede oder eine Folge? Diese Frage hat keinen Sinn, wenn man auf einer Ja/Nein-Antwort besteht – höchstwahrscheinlich würde die Antwort ›sowohl als auch‹ lauten. Ein modernes Analogon wäre die Frage, ob die auf den Weltraum orientierten Techniker und Wissenschaftler von heute die Ursache für den Erfolg von Weltraumfilmen und von hieb- und stichfesten Science-Fiction-Geschichten sind – oder ob die frühen wissenschaftsorientierten SF-Geschichten mit dem von ihnen vermittelten Staunen angesichts des schier grenzenlosen und rätselhaften Weltraums jenen Ingenieuren, als sie noch jung waren, den Wunsch eingeimpft haben, die Fiktion wahr werden zu lassen? Natürlich muss beides der Fall sein.
    Die frühen viktorianischen Lehrlinge und Gesellen in Töpfereien, in der Eisenbearbeitung, in Ziegeleien und sogar auf dem Bau achteten ihre Meister und wurden von ihnen geachtet. Gemeinsam schufen sie fortdauernde Denkmäler für künftige Generationen. Ebenso verbanden frühzeitig Züge und Kanäle alle bedeutenden Städte, und sie verbanden die Fabriken mit ihren Zulieferern und Kunden. Dieses Transportsystem ebnete den Weg für das wunderbare ökonomische Netz, welches das edwardianische Großbritannien vom viktorianischen erbte. Jene Systeme waren nicht statisch, sodass man sie für das Erreichte hätte bewundern sollen. Sie waren dynamisch, sie veränderten sich, sie waren gleichermaßen Prozesse wie Errungenschaften. Sie veränderten die Art und Weise, wie aufeinander folgende Generationen vom Wo und Wie ihres Lebens dachten. Sogar heute stützen sich unsere Städte nachhaltig auf die Bauten des viktorianischen Zeitalters, insbesondere was Wasserversorgung und Kanalisation angeht.
    Die sich daraus ergebenden Veränderungen in der Denkweise boten Nahrung für weitere Veränderungen. Die Kombination von Ursache und Folge ist ein Beispiel dafür, was wir an anderer Stelle Komplizität genannt haben.* [* Siehe Jack Cohen und Ian Stewart: Chaos – Antichaos .] Dieses Phänomen tritt auf, wenn zwei begrifflich voneinander unterschiedene Systeme in rekursive Wechselwirkung treten, wobei jedes immer wieder das andere verändert, sodass sie eine gemeinsame Evolution durchlaufen. Das typische Ergebnis sieht so aus, dass sie sich zusammen in Bereiche vorarbeiten, die keinem von ihnen allein zugänglich gewesen wären. Komplizität bedeutet nicht schlechthin ›Wechselwirkung‹, wobei die Systeme ihre Kräfte vereinen, um ein gemeinsames Resultat zu erreichen, ohne aber selbst im Ergebnis wesentlich beeinflusst zu sein. Komplizität ist weitaus drastischer und verändert alles. Sie kann sogar ihren eigenen Ursprung auslöschen, sodass keins der ursprünglich getrennten Systeme übrig bleibt.
    Die gesellschaftlichen Neuerungen, die (nachweislich, aber nicht allein) von viktorianischer Erfindungsgabe und viktorianischer Tatkraft ausgelöst wurden, sind just von solcher Art. Weil es Auslese gab und weil das beste Wachstum oft in den am besten entworfenen und betriebenen Teilen von wachsenden Systemen auftritt, kam es zu Rekursion, zu positiver Rückkopplung. Die nächste Generation wurde von den Erfolgen vorangehender Generationen inspiriert und ebenso von ihren edlen Irrtümern, und sie errichtete eine bessere Welt. Was wir das Kanaltunnel-Syndom nennen könnten, kommt in kapitalistischen, demokratischen Gesellschaften ziemlich oft vor, nicht aber in totalitären Staaten oder auch nur in Ländern wie etwa den gegenwärtigen arabischen Staaten oder im Indien des 20. Jahrhunderts. Und insbesondere nicht im Russland oder China des 19. Jahrhunderts: Beide waren reich, besaßen jedoch keine respektable Mittelschicht.
    Die viktorianische Mittelschicht wurde sowohl von den Arbeitern respektiert, deren Leben sie ausbeutete – und bereicherte –, wie von den Aristokraten, deren in zunehmendem Maße internationale Perspektive sich immer stärker mit dem Handel verflocht. Russland und China hatten politische Systeme ohne eine ökonomisch starke, kapitalkräftige Mittelschicht, die Moden auslösen oder

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