Das Alabastergrab
zwei Stunden reges Treiben, und in fünf Minuten würden die Pforten
für die Besucher öffnen. Seine Nachtwache war offiziell vorbei, er war
hundemüde und freute sich aufs Bett. Drüben am Eingang sah Max Newman bereits,
wie sich die Schulklassen und frühe Besucher drängten. Als das Tor geöffnet
wurde, fluteten die Menschen herein.
In dem Moment, als ein großer Mann mit Sonnenbrille und Pflaster
über dem linken Auge durch den Eingang trat und sich suchend umsah, verließ Max
Newman den Nürnberger Zoo nur fünfzehn Meter weiter entfernt durch einen
Nebeneingang des Personals, um lange und ausgiebig auszuschlafen.
*
Haderlein, Lagerfeld und Manuela Rast saßen am Frühstückstisch.
Manuela hatte die Verhaftung ihres Sohns immer noch nicht verdaut, doch
Haderlein konnte sie beruhigen. Jedem war klar, dass Sven Rast genauso von
einem Unbekannten benutzt worden war wie Scheidmantel und dessen Freundin.
Jetzt fehlte ihnen nur noch die vierte Person der nächtlichen Gemeinschaft, die
Sven Rast aber auch nicht kannte. Haderlein hatte angeordnet, Manuelas Sohn
nach Bamberg verlegen zu lassen, damit er von dem noch unbekannten Mann eine
Phantomzeichnung anfertigen konnte. Vielleicht war das der Mosaikstein in der
ganzen Sache, der die Kriminalpolizei weiterführen würde, wer wusste das schon?
Außerdem konnte Manuela ihren Sohn so wenigstens ab und zu sehen. Generell
waren Besuche während der Untersuchungshaft zwar nicht so einfach zu regeln,
aber Haderlein würde ihr zuliebe tun, was er konnte.
»Vielleicht sollten wir mal den Fernseher einschalten?«, schlug
Lagerfeld vor, während er seinen Kaffee schlürfte. »So, wie ich Fidibus kenne,
hat der doch schon Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um diesen
Mozart-Aufruf in die Medien zu bringen.«
»Das stimmt. Unser Chef ist leider ein poetischer Amokläufer, aber
wenn’s darum geht, Unmögliches möglich zu machen, ist er erste Wahl.« Haderlein
grinste verschlafen.
Sein Kollege rieb mit beiden Daumen grüblerisch an seiner Tasse
herum. »Vielleicht braucht man ja genau seine Psyche, um diesen Idioten von den
Medien und vom Ministerium in München Paroli bieten zu können.«
»Ich mach mal den Fernseher an«, ergriff Manuela die Initiative. »Es
kommen gleich Nachrichten, vielleicht bringen die ja schon was.«
Alle, Schwein inklusive, begaben sich ins Wohnzimmer. »Nette Idee
mit den Pflanzen übrigens, Franz«, meinte Lagerfeld, während er sich vor dem
Sofa auf dem Boden niederließ, um Riemenschneider Gesellschaft zu leisten.
Haderlein verdrehte die Augen, aber Lagerfelds Bemerkung schaffte
es, wieder ein kleines Lächeln auf Manuelas Gesicht zu zaubern.
»Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau«, tönte es
plötzlich aus den Lautsprechern, und alle drei hielten ihren Atem an.
*
Nikolai wusste, wo er zu suchen hatte. Zielstrebig hielt er sich am
Eingang rechts und schlenderte den breiten Weg Richtung Delphinarium entlang.
Beeilen musste er sich nicht, die erste Vorführung war für neun Uhr angesetzt.
Es hoffte, dass viele Besucher versammelt sein würden, um den Delphinen bei
ihren Spielereien mit den Pflegern zuzusehen. Dann wäre es nicht weiter
auffällig, wenn einer von ihnen plötzlich nicht mehr da war, und Nikolai hätte
genügend Zeit, unerkannt zu verschwinden.
Während er am Giraffenhaus vorbeischlenderte, musste er sich
eingestehen, dass er mit seinen Gedanken schon in Wien war. Auf der anderen
Seite sah er große und kleine Kängurus die frühe Sommersonne genießen. Er
wählte den Weg, der an der kleinen Eisenbahn vorbeiführte, und betrachtete den
großen Affenberg links von sich. Das Delphinarium war jetzt nur noch wenige
Meter entfernt, aber bis zum Beginn der Vorstellung waren es noch
fünfundvierzig Minuten. Entspannt lehnte sich Nikolai an die Umzäunung des
Affenbergs und stellte sich vor, wie er einen behaarten Primaten nach dem
anderen mit gezielten Schüssen in den Affenhimmel schickte. Bewegliche Ziele.
Eine wahrhaft sportliche Herausforderung. Seine Lippen verzogen sich zu einem
amüsierten Lächeln. Das würde ein ruhiger Freitag werden.
*
Max Newman öffnete die Tür zu seiner kleinen Wohnung am
Frauentorgraben in Nürnberg. Sie lag im ersten Stock und war sogar relativ
günstig für die Größe, wobei der Preis auf die Wohngegend zurückzuführen war.
Der Frauentorgraben war in etwa das fränkische Pendant zur Reeperbahn in
Hamburg. Kleiner und auch billiger für die Kundschaft, aber
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