Das alte Kind
bekam, dank ihr, Verbindungen in die besten Kreise, um dahin zu gelangen, wo er heute war. Immer war sie stolz auf ihn gewesen. Nie hatte sie ihm in den Ohren gelegen, er möge doch mehr Zeit bei Frau und Kind verbringen. Durch die größte Krise seines Lebens hatte sie ihn manövriert. Als seine Nerven nicht mehr mitzumachen drohten. Als seine Hände den Dienst verweigerten. Seine Frau war immer seine Stütze gewesen.
Und diese Frau sollte nun einen Nervenzusammenbruch gehabt haben? Es war lächerlich.
Sie hatte gerade ihr zweites Kind bekommen. Sie hatte starke Nerven, doch. Sie war nicht ängstlich wie andere Mütter, von denen Frederik manchmal hörte. Nicht nur, weil es ihr zweites Kind war. Sie war schon bei Frederik Juniors Geburt gelöst und entspannt gewesen. Carla bekam keine Nervenzusammenbrüche. Er war der Typ, der zusammenklappte. Nicht Carla.
Als ihn am Flughafen in Berlin-Tegel niemand abholte, regten sich ernste Zweifel. Falls es eine Überraschung hätte geben sollen, hätte ihn jemand abholen müssen. Der Arzt hatte ihm die Adresse der Psychiatrischen Abteilung des Benjamin-Franklin-Krankenhauses gegeben. Unwahrscheinlich, dass Carla mit einer Überraschung zu Hause auf ihn wartete. Es war also doch etwas passiert. Vielleicht mit den Kindern? Aber von seinem Sohn war nicht die Rede gewesen. Auch nicht von seiner Tochter. Für Frederik ergab all das keinen Sinn.
Er nahm sich ein Taxi und ließ sich zum Hindenburgdamm bringen. Fragte sich durch zu dem Arzt, der ihn angerufen hatte. Fand sich einem Psychiater gegenüber, der ihm erzählte, dass seine Frau einen Kollegen angegriffen hatte. Dass die Staatsanwaltschaft deshalb wegen Körperverletzung gegen sie ermittelte.
Und dass sie sich weigerte, ihre sechs Monate alte Tochter anzuerkennen.
Der Arzt brachte ihn zu seiner Frau. Sie war in einem Einzelzimmer untergebracht, saß im Bett und blätterte in einem Ausstellungskatalog. Sie arbeitete. Wie konnte sie einen Nervenzusammenbruch gehabt haben, wenn sie schon wieder arbeitete?
Als sie ihn sah, legte sie den Katalog weg, sprang aus dem Bett und lief auf ihn zu, um ihn zu umarmen. Er hielt sie fest, sie roch anders als sonst. Ein anderes Shampoo vielleicht. Der Psychiater blieb bei ihnen im Zimmer und hörte mit unbewegter Miene und verschränkten Armen zu, als sie ihm erzählte, dass Felicitas nicht Felicitas sei. Dass es offenbar eine Verwechslung gegeben haben musste. Sie sprach mit ruhiger, fester Stimme und klang so vernünftig und rational wie immer. Oder fast.
Er konnte unterdrückte Angst hören. Es war eine Klangfarbe, die er bisher noch nie bei ihr gehört hatte.
Eine andere Frau hätte Felicitas, sagte sie. Diese andere Frau würde es bemerken, nicht wahr, und sie dann zurückbringen?
Frederik sah den Psychiater an. Der hob nicht einmal die Augenbrauen.
Später zeigte er ihm Felicitas. Er hatte Carla versprochen, sie sich genau anzusehen, und das tat er auch. Ein Foto hatte er dabei, es zeigte Felicitas, als sie gerade zwei Wochen alt war. Da hatte er seine Tochter zum letzten Mal gesehen. Frederik zeigte dem Arzt das Foto, der es sich ebenfalls genau ansah. Er reichte es einer Krankenschwester, die noch genauer hinsah, bis sich alle einig waren, dass das sechs Monate alte Kind, das hier vor ihnen in seinem Bettchen lag, kein anderes als Felicitas sein konnte. Ganz so, wie es das Bändchen an ihrem Handgelenk bestätigte. Er suchte nach Familienähnlichkeit in ihrem Gesicht, fand durchaus Züge, die ihn an seine Mutter erinnerten, fand, dass es sich außerdem um ein reizendes, nettes Kind handelte, und sagte Carla genau das. Da verlor sie alle Haltung und schrie ihn an. Zum ersten Mal in ihrer gemeinsamen Zeit schrie sie ihn an. Sie sprang sogar auf ihn zu, die Hände zu Fäusten geballt, und er konnte nicht anders, als sich umdrehen und das Zimmer verlassen, aus Angst, sie würde ihm etwas antun.
Auf dem Flur rieb er seine Handgelenke. Erst noch unbewusst, dann fiel es ihm schließlich auf, wahrscheinlich, weil der Psychiater, der ihm nach ein paar Minuten gefolgt war, ihn beobachtete. Keine Zwangsneurose, sagte Frederik, halb im Scherz, aber der Psychiater wusste, wer er war und wollte wissen, ob alles in Ordnung sei mit seinen Gelenken. Er wusste offenbar noch mehr, wusste von den Schmerzen, die er vor sechs Jahren gehabt hatte und die bis heute kein Arzt erklären konnte, denn Rheuma und Arthrose hatten sie ausschließen können. Trotzdem hatte es zwölf lange Wochen
Weitere Kostenlose Bücher