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Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
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letzten reimen, mit dem Wort disaster. Und was ist ein Desaster? Eine Katastrophe, ein Verhängnis, ein Unglück, ein Unheil? Jedenfalls nichts, was sich so einfach auf beherrschen, meistern oder lernen reimen würde, noch auf Kunst oder Verlieren oder Verlust. Ich glaube, ich habe Monate abends nach der Arbeit und an den Wochenenden damit verbracht, eine Lösung für dieses Problem zu finden, zunehmend verdrossen, weil ich am Originalrhythmus eines Gedichts eigentlich so wenig wie möglich ändern will und jede grobe Umstellung mir als eine Vergewaltigung des Ursprungstextes erscheint. Hélène hat damals viel Gefluche und viel zerrissenes Papier ertragen, aber mir auch durch Zuhören und Vorschläge viel geholfen, sie spricht ja ein hervorragendes Englisch.
    Erst als ich mich vom Gedanken verabschiedete, disaster zu übersetzen, kam ich zu einer Lösung. Unnötig zu betonen, dass ich nie wirklich glücklich mit ihr geworden bin, aber da das schöne Halbleinenbändchen, das schließlich bei einem noblen kleinen Verlag in Berlin erschien, ja zweisprachig ist und jeder, der kann, auch den Originaltext lesen kann, habe ich mich mit ihr abgefunden.
    Die erste Strophe lautet:
    Die Schule des Verlusts durchläufst behende.
So vielen Dinge scheint die Absicht eigen
verlorn zu gehen. Ihr Verlust ist nicht das Ende.

    Und die letzte (die einzige vierzeilige):
    Dich zu verlieren selbst (dein Lachen, deine Hände
die ich liebe): Ich lüge nicht, ich kann es zeigen.
Die Schule des Verlusts durchläufst du recht behende.
Mag es auch aussehn wie (schreibs hin!) wie das Ende.
    Ich kann übrigens nur darüber spekulieren, warum Hélène damals dem Amerikaner nicht sagte, ihr Mann habe diese Gedichte übersetzt. Aber es reizte mich nicht zur Eifersucht.
    Es war ein weiter Weg von meiner Genugtuung darüber, als Hélène 1991 mit dem Arbeiten aufhörte, dass sie gewisse, mir missliebige Männer nicht mehr sehen würde, dass ich sozusagen mehr Kontrolle über ihren Umgang haben würde, über meinen Stolz darauf, dass meine Frau, dieser gute Mensch, sich um einen armen Kranken kümmern wollte, bis zu dieser Reaktion gelassener Toleranz, die von Gleichgültigkeit kaum mehr zu unterscheiden war.
    Angefangen hat es, glaube ich, auch wenn das die Sache vielleicht zu sehr vereinfacht, in dem kleinen fensterlosen Kämmerchen im vierten Stock des amerikanischen Hospitals, dessen abschließbare Tür genau dort lag, wo der helle und komfortable Wartebereich der Fivète auf den kurzen Korridor zum Labor stieß.
    Eine Neonröhre an der Decke leuchtete den Raum in jedem Winkel aus, die Wände waren mit einer weißen Textiltapete für Feuchträume bedeckt, nur rund um das kleine Waschbecken schützten Kacheln sie. Der Linoleumboden hatte das gleiche Muster aus Grau mit
rosa Linien wie draußen. Auf einem Rolltisch lagen die Utensilien und Zeitschriften. Sonst gab es nur einen mit schwarzem Kunstleder gepolsterten Stuhl aus Stahlrohren. In dieses Kämmerchen wurden die Männer gerufen, während die Ärzte bei ihren Frauen die Follikelpunktion durchführten.
    Diese Gänge vom Sessel im Warteraum zur Tür des Kämmerchens und zurück fanden in absoluter, tadelloser Diskretion statt. Jedermann wusste, was dort hinter der Tür geschah, aber nie habe ich erlebt, dass jemand aufblickte, Mann oder Frau, um den Menschen zu mustern, der dran war, oder sich dies und das vorzustellen. Es war, als gingen all die Männer nur eben zur Toilette oder zum Händewaschen.
    Ein Zettel an der Wand neben dem Spiegel listete minutiös die Reihenfolge der auszuführenden Handlungen auf. Es begann mit dem Waschen der Hände und des Glieds mittels einer Flüssigseife aus einem Spender, der links vom Waschbecken hing. Danach mussten Hände und Eichel mit einer rosafarbenen Desinfektionslösung eingerieben werden, die Dakin hieß und deren Spender rechts vom Wasserhahn hing. Danach durfte man außer sich selbst nichts mehr berühren, was recht unlogisch war, da für die Überbrückung der folgenden Sekunden oder Minuten doch die Zeitschriften gedacht waren, die man durchblättern sollte und die, durch viele Hände gegangen, gewiss nicht keimfrei waren. Auch der nächste Punkt war in jenem unnachahmlichen Kanzleifranzösisch formuliert, das allen offiziellen Mitteilungen und Verlautbarungen eine Art höherer Würde verleihen soll: »Schreiten Sie sodann zur Entnahme des Ejakulats mittels
Masturbation.« Dazu stand ein auf dem Tischchen neben den Zeitschriften liegender,

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