Das Amerikanische Hospital
Ungebundenheit, wie ich es in meinem ganzen Leben kein zweites Mal empfunden habe. Der Fahrtwind streichelte mein Gesicht, ich befand mich zwischen Himmel und Schnee, zwischen zwei vollkommenen Reinheiten, und völlig überwältigt verstand ich, dass dieser Freiheitsrausch nicht notwendigerweise auf diese Sekunden und Minuten im Lift oder auf der Piste beschränkt bleiben musste. Es war keine Enklave der Freiheit, sondern ein Tor, durch das ich fuhr. Unbedrängt, unvermindert, im Vollbesitz meiner Fähigkeiten. Die Zukunft war mir geschenkt.
Und so ist es denn auch nicht weiter verwunderlich, dass ich auf der ersten längeren Geschäftsreise, die ich
nach diesem kurzen Urlaub nach Deutschland unternahm, zum Sitz des Instituts - aber muss ich das alles wirklich erzählen?
Die Schuldgefühle waren erdrückend danach und wurden auch nicht dadurch gemildert, dass ich mich durch eine großzügige finanzielle Unterstützung, die Hélène helfen sollte, auf die eigenen Füße zu kommen, von ihnen freizukaufen suchte.
Briefe von ihr, in denen zum Beispiel stand: »Ich empfinde keinerlei Wut auf dich und brüte auch keinen Hass, zu dergleichen bin ich gar nicht fähig, nur mit der Zeit (und wie Ferré sagt: Mit der Zeit, da hört die Liebe auf) zürne ich dir etwas für die immense Vergeudung unseres gemeinsamen Lebens, die dein Ego angerichtet hat. Momentan ist das Leitmotiv meines Lebens: Ich hab ein glühend Messer in meiner Brust! O weh! Das schneid’t so tief …«, solche Briefe erschütterten mich zutiefst, jenseits der Anflüge eitler Genugtuung, die ich auch empfand, so geliebt worden zu sein (als hätte ich das nicht auch vorher schon gewusst). Ich empfand Schuld, ihr Leben zerstört zu haben, und ich sah nicht, wie es jemals wieder funktionieren sollte ohne mich.
Sie beschämte mich. Ich unterschätzte sie. Ich unterschätzte Hélènes Lebenswillen und ihre hartnäckige Natur. Sie machte den Führerschein, zog mit ihren Katzen in eine neue Wohnung in der Butte aux Cailles im 13. Arrondissement und hatte nach einem Jahr sogar einen Job gefunden, als Dokumentalistin, später Redakteurin einer Wohnzeitschrift. Sie fand auch, wie, weiß ich nicht, vielleicht über die Zeitschrift, den einen oder anderen Wohlhabenden, der sie als Einrichtungsberaterin
arbeiten ließ, schwarz, versteht sich, wie es alle Wohlhabenden tun.
Die Trennung verlief trotz all des Leids freundschaftlich, wie man sagt. Es fiel kein böses Wort. Wir blieben in Kontakt, telefonisch und brieflich. Ich fragte sie, ob sie den Amerikaner noch einmal getroffen habe, und sie sagte Ja.
Zu Anfang gab es keine Notwendigkeit für eine Scheidung. Als sie schließlich doch nötig wurde und wir eine Scheidung in gegenseitigem Einvernehmen beantragten, zogen sich die administrativen Vorbereitungen in die Länge. Der Schriftwechsel zwischen Frankreich und Deutschland dauerte, Urkunden mussten übersetzt, beglaubigt und eingeschrieben verschickt werden, obwohl unsere gemeinsame Anwältin, eine neue Bekannte Hélènes, versuchte, uns alles so einfach wie möglich zu gestalten.
So war es dann Oktober 2000, als die Verhandlung im Palais de Justice auf der Île de la Cité endlich stattfand. Ich betrat den Justizpalast zum ersten Mal und machte mir die Freude, mich ihm vom Quai des Orfèvres, von Maigrets Quai des Orfèvres, aus zu nähern. Ich war alleine gereist, wollte auch nur eine Nacht bleiben und am nächsten Vormittag gleich zurück nach Hause fliegen. Ich hatte ein Hotel auf der Île Saint-Louis gebucht.
Nach der Zeremonie setzten wir uns in ein Café auf der Place Dauphine und verstauten unsere Dokumente, sie in ihre Tasche, ich in meinen Rucksack.
Du rauchst immer noch?, fragte ich.
Ja, sagte sie, und ich wartete auf ein schnippisches Warum auch nicht?. Stattdessen bemerkte sie mit ironischem Lächeln: Du nicht mehr.
Ich zuckte entschuldigend die Achseln. Sie hatte mich zum Abendessen zu sich nach Hause eingeladen, und wir gingen zu Fuß über die Île Saint-Louis, wo ich meinen Rucksack im Hotel abstellte, bis zur Haltestelle Pont Marie und fuhren von dort bis zur Place d’Italie.
Auf dem Weg zur Butte aux Cailles sagte ich: Diese Ecke der Stadt haben wir nie richtig erkundet. Warum eigentlich nicht? Hier ist es auch schön. Ich glaube, ich gehe nachher zu Fuß zurück zum Hotel. Welchen Weg soll ich da nehmen, was meinst du?
Am kürzesten ist es den Boulevard de l’Hôpital runter bis Austerlitz und dann die Seine entlang, aber schöner,
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