Das Amulett der Pilgerin - Roman
aussehenden Mann fiel, der am Ende des Raumes in der Ecke saß. Einer Eingebung folgend, bahnte sich Julian seinen Weg zur Theke und setzte sich so hin, dass er den Mann ungestört beobachten konnte. Der Wirt brachte Julian wortlos einen Krug Bier, was anscheinend das einzige Getränk war, das ausgeschenkt wurde. Der Südländer sprach mit einer zierlichen Frau mit langen, schwarzen Zöpfen, die ihm gegenübersaß und von der Julian nur den Rücken sah. Der Mann sah ungewöhnlich aus, fast ein bisschen lächerlich. Er hatte lange Gliedmaßen und einen mächtigen Brustkorb, aber er schien nicht sehr muskulös zu sein. Sein rundliches Gesicht machte einen harmlosen Eindruck, aber das konnte auch an seinen fast femininen Zügen liegen. Julian war überrascht, hier einen Kastraten vorzufinden. Es konnte nicht anders sein. Was machte ein hochspezialisierter Sänger hier, der von Kindesbeinen an gefördert und behütet worden war und für seinen Herrn sicherlich einen großen Wert darstellte? Oder war er ein Wächter eines maurischen Harems? Dem Aussehen nach konnte er durchaus von der Iberischen Halbinsel kommen. Aber auch dann stellte sich die Frage, was er in England in einem, Julian blickte sich um, etwas schäbigen Gasthaus machte? Seine Kleidung war bescheiden, aber ordentlich, das passte zu der Wahl seiner Unterkunft. Er hatte also nur begrenzte Mittel zur Verfügung und war in Begleitung einer Frau. Ihrer Haarfarbe nach zu urteilen, konnte auch sie aus dem Süden kommen.
Julian nahm einen Schluck aus seinem Bierkrug und verzog das Gesicht. Missmutig blickte er in das Tongefäß. Diese dünne Brühe konnte doch wohl keiner als Bier bezeichnen! Er überlegte einen Augenblick, ob er sich beschweren sollte, aber dann hätte er die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich gezogen, und das wollte er nicht. Er schob den Krug auf dem klebrigen Tresen zu seinem Nachbarn weiter, einem kugelbäuchigen Kerl in einer speckigen Lederhose.
»Hier, zum Wohl.«
Der Mann blickte erfreut auf und nickte Julian zu, als dieser den Tresen verließ, um sich einen besseren Beobachtungsposten zu suchen. Gerade stand jemand von der Holzbank bei dem Südländer auf. Julian schlängelte sich zwischen den Gästen hindurch und erreichte den Platz, ehe sich jemand anderer setzen konnte. Er saß jetzt Rücken an Rücken mit der Frau.
»Wir müssen uns einen anderen Schlafplatz suchen, Viviana, diese Gaststätte ist überfüllt, einmal davon abgesehen, dass die Preise einfach exorbitant sind.«
Die ungewöhnlich helle, melodische Stimme hatte einen leichten spanischen Akzent. Julian hatte richtig vermutet, der Südländer war entmannt worden, ehe er dem Knabenalter entwachsen war, um seine helle Stimme zu erhalten.
»Vielleicht finden wir ein wenig außerhalb einen günstigeren Platz?«
Auch die Frau hatte einen Akzent. Sie war ganz sicher Französin, aber Julian konnte nicht sagen, aus welchem Teil Frankreichs sie kam. Sie sprach leise und wohlmoduliert. Ihre Stimme war kehlig und leicht rau, und Julian fand sie sehr reizvoll.
»Wie weit ist es noch bis Saint Albans?«
»Was darf ich bringen?« Die Bedienung übertönte dröhnend die Unterhaltung am Nebentisch.
»Was gibt es denn?« Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, in dieser schmierigen Absteige zu Abend zu essen, aber die Plätze an den Tischen waren Gästen vorbehalten, die bereit waren, sich den Künsten der Köchin auszuliefern.
»Haferbrei mit Schwarte, Haferbrei mit Zwiebeln und Rüben, gepökelter Aal.« Nach einem kritischen Blick auf Julians Kleidung fügte sie noch »Schweinshaxe und geröstetes Huhn« hinzu. Julian spürte, wie die Französin hinter ihm aufstand.
»Ich habe es mir anders überlegt, danke«, sagte er.
»Auch gut, aber dann musst du den Platz räumen.« Sie wischte halbherzig mit ihrem schmutzigen Handtuch über den nicht minder schmutzigen Tisch, dann wandte sie sich weniger wankelmütigen Gästen zu. Julian war froh, einer Mahlzeit entkommen zu sein, und stand ebenfalls auf. Er drehte sich um und zog überrascht die Luft ein. Vor ihm stand die Französin, und Julian starrte sie einen Augenblick unverhohlen an. Sie war die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte. Ihr herzförmiges Gesicht wurde von einem Paar riesiger, dunkler Augen dominiert, die, eingerahmt von einem Kranz schwarzer Wimpern, fragend zu ihm aufsahen. Ihre Lippen waren voll und hatten einen exquisiten Schwung. Sie mochte Mitte zwanzig sein. Julian konnte sich kaum von ihrem Anblick
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