Das Amulett der Pilgerin - Roman
Viviana.« Sie selbst hatte auch eine Weile gebraucht, bis ihr ihr angeblicher Nachname mühelos über die Lippen kam.
»Danke, das tue ich gerne. Wo ist Ihr Bruder?«
»Er ruht sich aus.«
»Wollen Sie beide noch zur Kathedrale?«
»Ich werde ihn fragen.« Sie sprang auf und lief in den Schlafsaal. Julian sah ihr nach und bewunderte die Grazie, mit der sie sich bewegte. Er folgte ihr mit seinem Bündel. Dieses Quartier war erheblich weniger komfortabel als das Zimmer, das er ursprünglich gemietet hatte. Alles im Dienste Seiner Majestät, dachte Julian, war sich aber sehr wohl darüber im Klaren, dass seine Neugierde diese Nachforschungen vorantrieb.
»Er möchte schlafen. Wir müssen allein gehen«, flüsterte Viviana mit einen Blick auf Rinaldo, der sich auf seinem Lager ausgestreckt hatte und dessen Augen geschlossen waren. Julian fühlte seinen Verdacht, dass sie nicht Rinaldos Schwester sein konnte, bestätigt. Er würde sie nicht mit einem flüchtigen Bekannten allein durch eine fremde Stadt spazieren lassen, wenn sie seine Schwester wäre. Viviana war also eine eigenständige Frau, die über sich selbst verfügte. Es war kein großes Risiko für sie, mit Julian zur Kathedrale zu gehen, dafür war die Stadt viel zu belebt, aber es könnte ihr leicht als ungehörig ausgelegt werden. Wenn es denn moralisierende Verwandte gäbe. Gab es anscheinend aber nicht. Er blickte auf sie hinunter, wie sie ungezwungen neben ihm ging und die Stadt betrachtete. So eine zauberhafte, junge Frau konnte unmöglich völlig schutzlos und allein umherreisen! Es musste doch jemanden geben, der sich um sie kümmerte. Und damit meinte Julian nicht einen seltsamen Südländer, der lieber ein Schläfchen hielt, als dafür zu sorgen, dass ihr nichts zustieß.
»Ja?«
»Wie bitte?«
»Sie haben mich so seltsam angesehen, als wollten Sie etwas sagen?« Ihre dunklen Augen schauten ihn fragend an.
»Sagen Sie doch bitte einfach Julian zu mir.«
»Also, Julian, wolltest du etwas sagen?«
»Ich habe es vergessen.«
»Du hast es vergessen? Was, wenn es etwas Wichtiges war?«
»Es kann nicht wichtig gewesen sein, sonst hätte ich es nicht vergessen.«
Sie blickte ihn mit einem seltsamen Ausdruck an.
»Und wenn es wichtig gewesen wäre, würdest du dich erinnern?«
»Früher oder später.«
»Wie viel später?«
»Wahrscheinlich zu einem gänzlich unpassenden Zeitpunkt. Zum Beispiel, wenn ich meinem Vorgesetzten Bericht abstatten soll.«
Viviana lachte.
»Ist das unangenehm, einen Bericht abzustatten?«
»Das kommt darauf an, ob man getan hat, was man sollte, und wie gut die Ausrede ist, wenn man es nicht getan hat.«
»Tust du öfter Dinge, die du nicht tun solltest?«
Julian überlegte. Seine Methoden waren sicher manchmal unorthodox. Allerdings war er meist erfolgreich damit, und das war das Einzige, was für den Kardinal wichtig war.
»Nein, ich halte mich meistens an die Regeln«, log er.
»Was machst du denn?« Im gleichen Moment ärgerte sich Viviana, dass sie die Frage gestellt hatte. Fragen waren eine Einladung zu Gegenfragen.
»Ich arbeite für die Schatzkammer des Königs.« Das war der langweiligste Beruf, den sich Julian vorstellen konnte, aber je näher er an der Wahrheit blieb, umso besser. Er hatte Vivianas Reaktion bemerkt und beschloss, sie nichts mehr zu fragen. Sie schien sehr vertrauensvoll zu sein, und er würde früher oder später herausbekommen, was er wissen wollte. Im gleichen Moment dachte er, wie leicht ihr Vertrauen ausgenutzt werden könnte, und ärgerte sich über ihren Begleiter, der nicht besser auf sie aufpasste.
»Das klingt« – sie machte eine winzige Pause – »spannend.«
Julian brach in Gelächter aus.
»Sollte ich deiner Meinung nach einen aufregenderen Beruf haben?«
»Nicht, wenn es nicht dein Wunsch ist, ein aufregendes Leben zu führen.«
»Ich bin also ein Langweiler.«
Viviana schlug erschrocken die Hand vor den Mund.
»Es tut mir leid, habe ich dich beleidigt?«
»Überhaupt nicht, du hast bloß festgestellt, dass ich nicht sehr heldenhaft bin. Aber das macht nichts, denn immer wenn ich die Gelegenheit habe, jemanden mit den ausstehenden Zinsen ins Schwitzen zu bringen, nutze ich das aus, das kannst du mir glauben.« Er zwinkerte ihr zu, und sie lachte erleichtert.
»Welcher verwegeneren Beschäftigung sollte ich denn stattdessen nachgehen?«
Viviana rieb sich das Kinn.
»Die Möglichkeit zu haben, jemanden ins Schwitzen zu bringen, ist schon ein großer
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