Das Auge der Fatima
konnte. »Gut, ich sage es ihr. Wir kommen gleich.«
Er legte den Hörer auf. Beatrice hatte den Eindruck, sie hätte plötzlich das empfindliche Gehör einer Fledermaus. Das Einrasten des Hörers auf der Gabel klang laut und hässlich. Thomas wandte sich ihr zu. Verschreckt wich sie zurück, kroch auf das Sofa. Sie wollte sich die Ohren, den Mund und die Augen zuhalten - nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Aber unglücklicherweise hatte sie nicht genug Hände dafür. Sie blickte in sein Gesicht, dieses Gesicht, dass mit einem Mal so angegriffen und alt ausschaute, als wäre er selbst betroffen, als wäre Michelle auch seine Tochter. Eine Träne lief über seine Wange, seine Unterlippe zitterte.
Es ist nicht gelungen, schoss es Beatrice wie ein Stromschlag durch den Kopf. Michelle hat es nicht geschafft.
Plötzlich war alles still. Es gab keine Geräusche mehr. Der Verkehrslärm von der Hauptstraße vor ihrem Haus war verstummt, die Vögel waren verstummt, ihr eigener Herzschlag war verstummt. Nichts bewegte sich mehr - Thomas, sie selbst, die ganze Welt. Stillstand. Tod.
Doch dann sah sie seine Augen. Braune, vollmilchschokoladenfarbene Augen, in deren Tiefe eine Wärme, ja fast eine Freude leuchtete, die zu der schrecklichen, alles vernichtenden Nachricht nicht ganz passen wollte. Und dann, langsam, ganz langsam, Buchstabe für Buchstabe kamen die Worte aus seinem Mund. Sie kamen so langsam, dass Beatrice fast die Schallwellen sehen konnte, die sie erzeugten.
»Es ist alles gut. Michelle ist vor etwa einer Viertelstunde aufgewacht.«
Beatrice saß auf den Stufen der Hintertreppe ihres Hauses und sah in den Himmel hinauf. Die Kälte dieser Aprilnacht spürte sie kaum. Ihr war warm, so wohlig warm, als wäre sie gerade in der Sauna gewesen, oder als wäre dies eine laue Juninacht auf Sizilien, angefüllt mit dem Duft der Orangenblüten und dem Zirpen der Grillen.
Sie genoss den ungetrübten Blick auf die Sterne. Es war spät, schon weit nach Mitternacht, nur hin und wieder fuhr jenseits des Tors ein Auto vorbei, und in den meisten Fenstern der umliegenden Häuser waren bereits die Lichter erloschen. Kein Wunder, es war Mittwoch. Alle Berufstätigen mussten früh aufstehen, um zur Arbeit zu gehen. So wie sie selbst auch - für gewöhnlich.
Unvorstellbar, dass sie vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden aufgestanden und zur Arbeit ins Krankenhaus gefahren war. Dass vor nicht einmal zwölf Stunden ihre Mutter im Krankenhaus angerufen und von Michelles Koma erzählt hatte. Dass es noch keine fünf Stunden her war, seit ihr kleines Mädchen wieder aufgewacht war. Nicht einmal vierundzwanzig Stunden waren vom Frühstück bis jetzt vergangen, und trotzdem lag ein ganzes Leben dazwischen.
Aus der Küche drangen die Geräusche von klapperndem Geschirr an ihr Ohr und überflutete sie erneut mit dem Gefühl dieser Wärme. Thomas war damit beschäftigt, ihnen etwas zu essen zu machen. Sie hatte ihn nicht darum bitten müssen, er hatte es selbst angeboten. Ebenso wie es für ihn selbstverständlich gewesen zu sein schien, sie in das Kinderkrankenhaus zu fahren, dort bei ihr zu bleiben, gemeinsam mit ihr mit den Ärzten zu sprechen und sie auch wieder nach Hause zu bringen. Und die Tatsache, dass er allein in ihrer Küche herumhantierte, war ihr noch nicht einmal unangenehm. Unangenehm war ihr höchstens der Gedanke daran, wie oft sie Thomas für einen unsensiblen, arroganten Kerl gehalten hatte. Wie sehr man sich in Menschen doch täuschen konnte.
»So, da bin ich wieder«, sagte Thomas. Er hatte zwei große Teller in den Händen und eine Flasche Wein und zwei Gläser unter dem Arm geklemmt. Er drückte ihr einen Teller in die eine, ein Glas in die andere Hand, schenkte den Rotwein ein und setzte sich dann neben sie auf die Stufen. Beatrice atmete tief ein. Ihr war nie zuvor aufgefallen, dass sie seinen Duft mochte, diese Mischung aus Azzaro, Zigarettenrauch und Desinfektionsmittel.
»Was ist?«, fragte er.
Beatrice schüttelte den Kopf. Sie konnte sich das Lächeln nicht verkneifen angesichts des mit Käse, Schinken, Tomaten und Gurken belegten Brotes. Fehlte eigentlich nur noch die Dose Cherry-Coke. Stattdessen gab es Rotwein, eine durchaus akzeptable Alternative.
»Es ist nichts«, sagte sie und biss in ihr Brot. Sie hatte einen Hunger, als hätte sie seit mindestens hundert Jahren nichts mehr gegessen. »Ich musste nur gerade an jemanden denken.« Was hätte wohl ihr Exfreund Markus Weber in so einer
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