0924 - Der Herr der Nebelberge
»Es reicht jetzt. Lass uns gehen.«
Hendreg pickte einen flachen Stein vom Boden vor dem umgestürzten Baumstamm, auf dem er saß, und warf ihn in den Tümpel. Es platschte und der Stein verschwand genauso wie Hendregs Hoffnung, dass an diesem Nachmittag noch etwas Aufregendes geschehen könnte.
Viel lieber wäre er mit Barnt in die kalten Höhen aufgestiegen, um Schneespringer zu jagen. Weil sein Vater aber seit gestern zum Markt in Dromlin auf der anderen Seite der Berginsel unterwegs war, durfte er nicht! Nein, er musste auf seinen kleinen Bruder Stanef aufpassen - einen achtjährigen Hosenscheißer, mit dem man nichts, aber auch gar nichts anfangen konnte!
Nun saß er hier, sah zu, wie Stanef voller Begeisterung im Dreck bohrte, und langweilte sich ein Loch in den Kopf.
Er schnappte sich einen weiteren Stein und ließ ihn dem ersten folgen.
Platsch!
»Ich spreche mit dir, Winzling!«
Stanef sah von dem Bauwerk aus Zweigen und Erde auf, dem er gerade seine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. »Was?« Er hatte es fertiggebracht, mehr Erde in sein Gesicht zu kleistern als in sein Haus, seinen Stall oder was auch immer er da baute. Sogar die weite Wollhose und die ehemals hellgraue Jacke zeigten kaum noch Spuren ihrer ursprünglichen Farbe.
»Lass uns heimgehen. Ich hab keine Lust mehr, dich zu beobachten, wie du dich in einen Dreckmolch verwandelst.«
»Aber mein Tempel ist noch nicht fertig!«
Ein Tempel also. Aha.
»Nur noch ein paar Minuten, Henny. Bitte!«
Hendreg seufzte. Brüder! »Na schön, aber beeil dich.«
Er angelte noch einen Stein vom Boden. Diesmal warf er ihn aber nicht, sondern ließ ihn von einer Hand in die andere plumpsen. Sein Blick glitt in die Ferne. Hinter ihm ragte die Berginsel auf, doch vor ihm erstreckte sich eine weite Wiese mit vereinzelten Bäumen, einer Unmenge von Weißbeersträuchern und einem traurigen Wasserloch, das sich die Bewohner des Dorfes als Weißbeerteich großredeten!
Von dem Gefälle auf der anderen Seite der Wiese konnte Hendreg nichts erkennen. Es führte noch einige Kilometer als sanfter Hang durch Wälder, über Steinfelder und riesige Rotgrasflächen bis hinunter ans Meeresufer. Was er aber sehen konnte, war das Meer selbst. Von hier oben besaß er einen guten Blick über die Baumwipfel auf eine unendlich weite Fläche aus gelblichweißem, dickem Nebel. Bis zum Horizont und vermutlich noch darüber hinaus war Isilria davon bedeckt. In der Ferne reckten Berginseln ihre Gipfel aus dem Nebel der Sonne entgegen, doch die Distanz war zu groß, um mehr als dunkle Umrisse ausmachen zu können.
»Glaubst du, dort leben Menschen?«
Der Fünfzehnjährige zuckte zusammen, als ihn die Stimme seines Bruders aus den Gedanken riss. Stanef stand direkt neben ihm.
»Ist dein Tempel fertig?«
»Nein, aber ich hab auch keine Lust mehr. Also, glaubst du, dort leben Menschen?«
»Woher soll ich das wissen?« Sekundenlang starrte Hendreg über den Nebel. Dann fügte er mit ruhigerer Stimme hinzu: »Die Legenden erzählen, dass es dort Menschen gegeben haben soll. Das ist aber lange her. Keine Ahnung, ob sie noch da sind. Andererseits gibt es uns auch noch. Also wer weiß? Vielleicht fragt im Augenblick dort drüben ein nerviger Junge seinen netten Bruder, ob auf unserer Berginsel Menschen leben.«
»Ich bin nicht nervig! Erzählst du mir von den Legenden, Henny? Bitte, bitte, bitte!«
»Na gut.« So schlage ich wenigstens die Zeit tot! »Setz dich.«
Stanef ließ sich auf dem Baumstamm nieder.
Hendreg machte eine Armbewegung, die die ganze Welt zu umfassen schien, und warf dabei den Stein in den Tümpel. »In den Zeiten der Alten gab es den Nebel noch nicht. Wie auf unserer Berginsel sah es überall in Isilria aus, mit all den Pflanzen, den Teichen, dem Schnee in den kalten Höhen. Nur viel größer. Es war ein riesiges Land. Wenn du bei uns um den Berg läufst, kommst du nach einigen Tagen aus der anderen Richtung wieder dort an, wo du aufgebrochen bist. Isilria aber war so groß, dass ein ganzes Leben nicht ausgereicht hätte, um es zu umrunden. Deshalb sorgte die Zunft der Treppenmeister dafür, dass man auch solche Entfernungen schnell zurücklegen konnte.«
»Treppenmeister?«
»Sie haben Portale errichtet, hinter denen die schnellen Stufen lagen. Andere Geschichten nennen es das kleine Land der großen Schritte .«
Stanefs Augen, die fast so weit aufgerissen waren wie der Mund, zeigten, dass er kein Wort begriff.
»Jetzt schau nicht so, Winzling! Ich weiß
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