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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Königin
von
Sardinien
kennen
gelernt.
Ihr
Leben
war
schrecklich.
Sie war
mit
ihren
Gedanken nur in der Vergangenheit, verfolgte aussichtslose Komplotte, um wieder
auf den Thron zu gelangen, ließ sich von verbohrten Exilanten in schäbigen Anzügen
belagern und wurde mit den Jahren immer verbitterter, ohne je ein wirkliches Leben
zu führen. Ich hoffe, dass Adelaide es nicht genauso macht.«
    »Ich wüsste, was sie machen könnte«, sagte Becky. »Sie weiß es noch nicht und ich
habe nicht mit ihr darüber gesprochen. Aber als sie am Morgen des ersten Verhandlungstages in das Konferenzzimmer trat, da sah sie aus wie eine Schauspielerin,
die auf die Bühne tritt. Sie lenkte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich und
hielt sie auch in ihrem Bann. Und sie begreift so schnell ... sie ist ein echter Star. Es
würde mich nicht wundern, wenn sie zum Theater ginge.«
    »Eine gute Idee! Und Jim kann Stücke für sie schreiben. Und du beginnst ein
Studium an der Universität. Es gibt so viele lohnende Ziele, Becky ... Aber sieh mal,
die Stühle für das Konzert werden aufgestellt. Sollen wir uns für das Abendessen
umziehen?«
    Nach dem Gespräch mit Mrs Goldberg fühlte sich Becky wieder gestärkt. Das war die
Frau, die Becky einmal sein wollte; sie war der lebende Beweis, dass es möglich war;
sie brachte Hoffnung und das Gefühl brodelnden Lebens. Als sie erfuhr, was Jim mit
dem von ihr gestrickten Seemannspullover gemacht hatte, lachte sie aus schierer
Freude, als gäbe es keine Finsternis und als bestünde das ganze Universum nur aus
Licht und Schatten.
    Becky verließ die Säulenhalle und begab sich langsam auf ihr Zimmer, wo sich ihre
Mutter ausruhte. Bald würden sie an einem Tisch im Speisesaal sitzen und vielleicht
würde Jim ihnen Gesellschaft leisten. In ein, zwei Tagen wäre Adelaide dann so weit
aufzustehen.
Sie
würde
sich
aber
noch
lange
schonen
müssen,
ans
Schlittschuhlaufen war nicht zu denken. Auch Becky wäre gern über das Eis geglitten
oder hätte zumindest gern einen Versuch gewagt.
    Mit solchen Tagträumen beschäftigt, bog sie in den langen Gang ein, an dessen Ende
ihr Zimmer lag, drei Türen von Adelaides entfernt. Als sie die Tür zur Dienstbotentreppe erreichte, kam gerade eine Krankenschwester mit Wolldecken unter
dem Arm heraus und eilte vor ihr den Gang hinunter. Vielleicht lag es daran, dass
Becky nun ruhig und entspannt war oder dass Jims Sinn für Charakterdarstellung ihr
Carmen Ruiz so lebhaft vor Augen gestellt hatte, vielleicht war es auch einfach
Glück, jedenfalls heftete sich ihre Aufmerksamkeit auf ein Detail der nur wenige
Schritte vor ihr gehenden Krankenschwester: ihre Schuhe. Sie waren schief gelaufen
und schmutzig! Und das in diesem Tempel der Hygiene ... Und ihr Häubchen saß
auch schief, als hätte sie gerade ... Becky hielt den Atem an und versuchte zu
schreien: »Zu Hilfe!«
    Doch ihre schmerzenden Rippen hinderten sie daran und heraus kam nur ein
heiserer Schrei. Die Krankenschwester hörte es, fuhr blitzschnell herum, ließ die Decken fallen und kam wie ein Raubtier herangerast. Becky sah eine Schere - Klingen in
der erhobenen Hand -, sah einen schreiend rot geschminkten Mund und weiße
Zähne. Sie griff nach der Klinke der nächsten Tür, ganz gleich welche, um sich zu
verstecken, sich in Sicherheit zu bringen
    Sie stürzte in einen dunklen Raum, in dem es nach Karbolsäure roch, und glitt auf
dem gebohnerten Fußboden aus. Sie versuchte, der Reichweite der Frau zu entkommen, die, von der plötzlichen Wendung aus dem Gleichgewicht gebracht, über
Beckys Beine stolperte. Doch im nächsten Augenblick hatte sie schon wieder die
Hand mit der Schere erhoben und stach frenetisch zu. Becky wand und krümmte
sich und spürte, dass die Scherenklingen ihren Rock an die Dielenbretter hefteten.
Sie packte die Frau an den verfilzten, schmutzigen Haaren - das Häubchen fiel sofort
herunter - und wurde wie ein Reiter auf einem Wildpferd hin und her geworfen.
Aber sie hielt fest, bis sie merkte, dass die Frau
die Schere wieder aus
dem
Dielenboden herausbekam. Da griff Becky nach dem Rand des Labortisches und
versuchte, sich mit einem lautlosen Schmerzensschrei hochzuhieven ...
    Doch
der Tisch
war
nicht
am
Boden
verschraubt.
Er
kippte,
etwas
geriet
ins
Rutschen, zerbrach, Flüssigkeit lief aus, dann kam die Kante des kippenden Tisches
auf sie zu und Becky sah voraus, dass er ihr die Beine brechen würde. Im gleichen
Augenblick tat Carmen Ruiz einen Satz nach vorn, wieder mit der

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