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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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er hatte es eilig, er sollte nach Feierabend Tuba in der
Kreuzlinger Blaskapelle spielen ... »Ach, nicht der Rede wert«, wiegelte er ab.
»Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Weg nach draußen.«
    Beim
Türaufhalten
bemerkte
er,
dass
sie sich
schon
eine Weile nicht
mehr
gewaschen haben musste und dass sie halblaut mit sich selbst sprach. Der Korb, den
sie bei sich trug, war leer bis auf eine Schere. »Die spinnt«, sagte er zum Schaffner,
während beide beobachteten, wie sie die Straße überquerte, einen Blick auf ein
Hinweisschild
warf
und
dann
zur
Klinik
hinaufging.
»Sinnlos,
Zeit
mit
einer
Geisteskranken zu verschwenden. Schließen wir ab.«
Becky ging mit Mrs Goldberg die Säulenhalle auf und ab und schaute den Arbeitern
zu, die die Eisfläche fegten.
    »Und? Heilen die Rippen?«, fragte Sally. »Es tut immer noch weh. Offenbar können
die Ärzte bei Rippenbrüchen nichts tun, außer zuschauen und die Heilung abwarten.
Wenigstens habe ich keine Lungenentzündung bekommen, wie es mitunter passiert.
Ich muss eine eiserne Gesundheit haben. Ich fühle mich nur so ... verkauft.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
    »Wissen Sie, vor dieser ganzen Geschichte habe ich gern die Groschenhefte gelesen,
die meine Mutter illustriert. Ich habe mir eingebildet, ich wäre Dick aus dem
finsteren Tann oder Jack Harkaway und würde Räuber und Piraten fangen. Ich wollte
Aufregendes erleben und Kühnes tun. Und das habe ich mittlerweile. Ich war bei
wichtigen diplomatischen Verhandlungen dabei, ich bin heimlich aus einer Burg
geflüchtet und habe mich an einem Kampf beteiligt ... Ich habe mit einer Pistole geschossen und sogar jemanden tödlich getroffen. Ich glaube nicht, dass irgendjemand
in sechs Monaten Aufregenderes erlebt hat als ich. Und wissen Sie, wie ich mich
jetzt fühle?«
»Leer.«
    »Genau! Leer, enttäuscht, erschöpft. Es war alles für die Katz. Dieser Verrat ...
Adelaide hatte sich so lange und ausdauernd bemüht und sie stand kurz vor dem Erfolg ... Und die ganze Zeit über hat jemand all ihre Bemühungen untergraben. Er hat
mit ihr gespielt. Mit dem ganzen Land hat er gespielt - auch mit Baron Gö-del. Und
wir kennen ihn nicht einmal.« »Der Name dieses Mannes ist Bleichröder«, sagte Mrs
Goldberg.
Becky sah sie verblüfft an. »Wer ist dieser Mann? Und woher wissen Sie, dass er es
war?«
    »Er ist Fürst Bismarcks Bankier. Dan, mein Mann, arbeitet schon lange an einem
Dossier über ihn; Bleichröder ist eine graue Eminenz, ein Strippenzieher im Hintergrund. Nach außen ist er ein höflicher alter Herr, so gut wie blind; jüdischer
Herkunft, daher in der deutschen Gesellschaft nicht voll anerkannt, vor allem nicht
bei den Konservativen am Kaiserhof; aber er ist seit langen Jahren ein Vertrauter
Bismarcks und versteht sich auf Geheimpolitik. Als Dan von der Angelegenheit erfuhr, war sein erster Verdacht, dass Bleichröder dahinter stecken könnte. Bismarck
soll in einem Machtkampf mit dem Reichstag stehen, und den bereits ausgehandelten Vertrag zu kippen gehörte zu seiner Strategie, den Reichstag zu schwächen.
Aber wir haben es zu spät durchschaut, um euch noch zu warnen. In den amerikanischen Zeitungen stand selbstverständlich nichts über Raskawien.«
    Becky wischte sich Tränen des Zorns aus den Augen. »Dann war alles, was wir
durchgemacht haben, Teil von etwas Größerem, von dem wir nichts ahnten und das
hunderte Kilometer entfernt ausgedacht und gelenkt wurde ... Der Gedanke ist
unerträglich! Das Land hatte keine Chance!«
    »Du und Adelaide und Jim, ihr habt dem Land die beste Chance verschafft, die es
überhaupt haben konnte. Ihr habt alles getan, was man mit Mut, Intelligenz und
Phantasie erreichen konnte, aber letztlich siegt, wer die Macht hat. Wer mehr
Macht hat, siegt immer.«
    »Wird das denn so bleiben? Haben die Schwächeren keine Hoffnung?«
»Nicht für immer. Für einige Zeit. Dann treten die ersten Risse auf, die Zentrale
lockert ihren Griff, und die Menschen erinnern sich daran, was sie früher einmal
waren, und fühlen den Drang, ihr Geschick selbst in die Hand zu nehmen. Das Leben
ist nicht statisch, Becky. Das Leben ist immer in Bewegung. Alles ändert sich. Das ist
das Schöne daran ...«
Sie hielten am Ende der Säulenhalle an. Die Männer auf dem Eis kehrten ein letztes
Mal mit ihren Besen und sprangen dann auf den Holzboden am Rand der Bahn.
    »Was wird jetzt aus Adelaide?«, fragte Sally. »Ich habe einmal die ehemalige

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