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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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eine von Bäumen gesäumte Straße entlang
und
dachte an
deutsche
Verben. Sie war auf dem Weg zu ihrer neuen Schülerin - tatsächlich war es ihre erste
überhaupt -und sorgte sich, ob sie einen guten Eindruck hinterlassen und ihre Sache
richtig machen würde. Ihr Umhang war ein bisschen abgetragen, die Kappe altmodisch und außerdem war ein Loch in der Sohle ihres rechten Schuhs. Doch das tat
nichts zur Sache. Die Straße war trocken, die Luft angenehm frisch, und gerade hatte
ihr ein junger Mann mit Strohhut einen Blick zugeworfen, in dem man Gefallen
erkennen konnte. Be-cky fühlte sich blendend, denn sie war ein unabhängiges
Mädchen - oder doch fast unabhängig. Dennoch beachtete sie den interessiert
schauenden jungen Mann überhaupt nicht, suchte nach dem Straßenschild und bog
jetzt
in
eine
breite Villenstraße ein.
Deutsch
war
Beckys
Muttersprache.
Ihre
zweite^pra-che war Englisch, ihre dritte Italienisch, ihre vierte Französisch, ihre
fünfte Spanisch;
sie war
gerade dabei,
ihr
Russisch
zu
vervollkommnen;
und
schimpfen konnte sie auch in Polnisch und Litauisch. Zusammen mit ihrer Mutter
und ihrer Oma lebte sie in einer sehr bescheidenen Pension im ärmsten Winkel von
Maida
Va-le,
wo
ihre
Mutter
als
Illustratorin
für
Groschenromane
und
Sensationsblätter arbeitete. Sie wohnten dort, seit sie - Becky war damals drei Jahre
alt - Mitteleuropa hatten verlassen und ins Exil gehen müssen. Sie überlebten dank
ihres Fleißes, der Unterstützung durch Landsleute und anderer Exilanten: arme,
diskutierfreudige, großzügige, vielfach begabte Leute aus fast allen Ecken Europas.
In mehreren Sprachen zu denken, war für Becky genauso selbstverständlich wie
ihren Lebensunterhalt selbst verdienen zu müssen. Da schien es nur vernünftig,
beides miteinander zu verbinden. Gleichzeitig
litt sie an allem, was
ihr
Leben
einengte.
Wie
alle
Menschen
mit
bescheidenem
Äußeren
-
eher
stämmig
als
rundlich, mit forschenden dunklen Augen, Wangen, die zu leicht erröteten, und
schwarzem Haar, das nur schwer zu bändigen war - glaubte sie, eine Räuberseele zu
besitzen. Sie lechzte nach romantischer Liebe. Bisher hatte sie nur eine Liebelei mit
einem Metzgerlehrling als knapp Zwölfjährige gehabt. Er hatte ihr eine Zigarette für
einen Kuss geboten, aber sie hatte dann doch nicht richtig geraucht, weil er sie
warnte, für Mädchen sei es gefährlich zu rauchen, sie könnten davon wahnsinnig
werden. So hatten sie beide im Gebüsch gesessen und immer abwechselnd einen
Zug getan, bis Becky sich übergeben musste - auf seine Stiefel. Das hatte er jetzt
davon. Irgendwie war sie mit dieser Erfahrung nicht zufrieden. Sie träumte von Entermessern, Pistolen und Branntwein, musste sich aber mit Kaffee, Bleistiften und
deutschen Verben begnügen.
    Doch die Verben spendeten ihr auch Trost. Sie konnte sich für Fremdsprachen
begeistern, und wenn sie schon nicht mit einer sizilianischen Räuberbande in einer
Höhle leben könnte, dann wollte sie gern Philologie und Sprachwissenschaft an
einer Universität studieren. Aber das kostete Geld. Deshalb hatte sie wie viele andere
Exilanten
eine
Anzeige
aufgegeben,
in
der
sie
ihre
Dienste
als
Fremdsprachenlehrerin für Deutsch und Italienisch anbot.
Eine Antwort kam fast umgehend.
    Eine merkwürdige obendrein. Ein junger Gentleman, der darauf bestand, englisch zu
sprechen, obgleich ihm das Deutsche - da waren sich Becky und ihre Mutter ganz
sicher - viel vertrauter war, hatte sie gebeten, jeden Morgen in seiner Villa in der
Church
Road
43
in
St.
John's
Wood
eine Miss
Bevan
zu
unterrichten.
Das
Honorarangebot war üppig, seine Verlegenheit - er war noch sehr jung - nicht zu
übersehen. Becky glaubte fest, einen Anarchisten vor sich zu haben; ihre Mutter
hielt ihn eher für einen Mann von AdeLoder gar einen Prinzen.
»Ich habe schon Prinzen gesehen, du noch nicht«, sagte sie zu Becky. »Glaube mir,
das ist ein Prinz. Und was sie betrifft ...«
    Auf Miss Bevan konnten sich Mutter und Tochter keinen Reim machen. War sie
jung? Alt? Ein Kind? Eine schöne, raffinierte Spionin?
Nun, das würde Becky ja bald herausfinden. Sie bog in die Church Road ein und
wollte gerade die Pforte zu Nummer 43 öffnen, einer weißen Villa mit Kiesweg im
Schatten
von
Lorbeerbäumen,
als
sie jemand
mit
»Entschuldigen
Sie
bitte«
ansprach.
Überrascht blieb sie stehen. Es war der junge Mann mit dem Strohhut. Wie war der
nun plötzlich vor ihr aufgetaucht?
    Er
mochte
Anfang
zwanzig
sein,
hatte

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